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00:00:01: Florian Harms: Hallo und herzlich Willkommen zu Tagesanbruch die Diskussion für das Wochenende vom 10. Und 11. Mai 2025. Friedrich Merz ist neuer Bundeskanzler, startet aber geschwächt ins Amt. Erst im zweiten Wahlgang haben ihn die Abgeordneten von CDU, CSU und SPD ins Amt gewählt, das ist vor ihm noch keinem anderen Kanzler widerfahren. Welche Folgen hat das Wahldebakel für den Regierungschef? Wer sind die Heckenschützen in den eigenen Reihen und besitzt März nun überhaupt die nötige Autorität, um die Bundesregierung stabil zu führen und die geplanten Reformprojekte umzusetzen?
00:00:43: Florian Harms: Liebe Hörerinnen und Hörern, nach einem schwierigen Start ins Amt hat Friedrich Merz die ersten Schritte als Bundeskanzler gemacht. Die erste Kabinettssitzung mit den Ministern, die ersten Reisen nach Paris, Warschau und Brüssel, das Gedenken zum Kriegsende vor 80 Jahren. Nun will er wie versprochen die großen Vorhaben anpacken. Wirtschaft ankurbeln, Grenzen sichern, Bundeswehr ertüchtigen, Zollstreit mit Trump schlichten, Bürgergeld reformieren und vieles mehr. Aber hat er nach dem Wahldrama im Bundestag überhaupt noch den nötigen Rückenwind, um wirksam regieren zu können? Oder muss er fürchten, dass ihm Abweichler in den eigenen Reihen der Regierungsfraktionen schon beim nächsten Streitthema wieder ein Bein stellen? Wie stark oder schwach ist dieser Bundeskanzler? Auf wen kann er sich stützen und wo lauern Gefahren? Viele Fragen, auf die wir Antworten liefern wollen. Wir, das sind der Politikchef von t-online, Christoph Schwennicke...
00:01:32: Christoph Schwennicke: Und Florian Harms, Chefredakteur von t-online.
00:01:36: Florian Harms: Christoph, lass uns zu Beginn noch mal reinhören in diesen denkwürdigen Moment im Bundestag am vergangenen Dienstag.
00:01:43: Ton Bundestag 1: Mit Ja haben gestimmt 310 der Abgeordneten, mit Nein haben gestimmte 307, Enthaltungen 3. Der Abgeordnete Friedrich Marz hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen nicht erreicht. Er ist gemäß Artikel 63 Absatz 2 des Grundgesetzes zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nicht gewählt.
00:02:06: Florian Harms: Nicht gewählt. Und dann sah man diese versteinerten Gesichter. Wie ging es dir, als du von diesem Moment erfahren hast?
00:02:12: Christoph Schwennicke: Bei uns klappten im Newsroom auch allesamt die Kinnladen runter. Ich muss auch sagen, ich schaue jetzt drei Jahrzehnte doch schon auf den politischen Betrieb und das gehört mit Sicherheit zu den drei, vier spektakulärsten Momenten, die ich miterleben durfte oder miterlebt habe. Ein bisschen würde ich es trotzdem auch relativieren. Ich habe mal in die Zahlen reingeschaut, wie andere Kolleginnen und Kollegen ja auch. Also es war schon öfter so, dass Kanzler, die gewählt werden wollten, noch mehr Abtrünnige zu verzeichnen hatten bei ihrer Wahl. Das war schon bei Konrad Adenauer bei seiner Wiederwahl 1953 so, dass 19 eigene Leute ihn nicht gewählt haben. Das ist immerhin eine Person mehr, als es bei Friedrich Merz im ersten Anlauf war. Und bei Kurt Georg Kiesinger 1966, es waren sage und schreibe 104, die ihn mindestens nicht gewählt haben. Nur der Unterschied ist eben... Die Mehrheit von Friedrich Merz ist relativ dünn, mit zwölf übern Durst, und dann hatte es eben diese Folge, dass er der Erste war, der da ganz betröppelt saß und irgendwas auf einen Zettel kritzelte. Ich glaube, das war eine klassische Übersprungshandlung, er wusste gar nicht, wie ihm geschah.
00:03:24: Florian Harms: Männchen gemalt oder so oder die Zahlen noch mal notiert. Es gibt ein Foto von ihm in diesem Moment, was ein Agenturfotograf geschossen hat. Das finde ich sehr aussagekräftig, weil man so richtig in diesen Augen und in dieser Mimik der Person sieht, dass sie wirklich geschockt ist. Also Merz war offenkundig in diesem Moment wirklich erschüttert.
00:03:42: Christoph Schwennicke: Ich glaube, der eigentliche Moment der Wahrheit war schon Augenblicke vorher. Man merkt es schon, wie plötzlich so etwas Unruhe war. Und dann wuselten alle so ein bisschen fahrig in der Gegend rum. Ich glaube das sickerte vorher natürlich in den Reihen schon durch. Aber ja, das war die Stehend K.O. Er stand nicht, er saß. Aber das war das war natürlich ein absoluter Magenschwinger. Und wir müssen auch ehrlich sagen, auch bei uns in der Redaktion hätte damit gerechnet.
00:04:11: Florian Harms: Bei uns in der Redaktion ging es dann natürlich hoch her. Eine schnelle Eilmeldung, dann die Einordnung. Du hast sofort kommentiert. Ein Kollege hat er gesagt, Christoph Schwennicke, der schnellste Kommentator der Republik.
00:04:25: Christoph Schwennicke: Hoffentlich... Wie heißt das? Gründlichkeit vor Schnelligkeit - hoffentlich war die Gründlichkeit trotzdem groß genug.
00:04:29: Florian Harms: Ich hab's gern gelesen, deine Überschrift war eine Katastrophe oder so ähnlich.
00:04:33: Christoph Schwennicke: Schon jetzt eine Katastrophe.
00:04:35: Florian Harms: Ganz schön starkes Wort, warum?
00:04:36: Christoph Schwennicke: Ja, also so möchte man nicht als Kanzler starten. So möchte man eigentlich nicht auf die Reise geschickt werden von den eigenen Leuten. Wir werden ja gleich noch ins Spekulieren kommen, wie das geschehen konnte und wer das wohl gewesen sein mag. Aber er hat ja nun ohnehin einen wirklich großen, großen Rucksack auf seinen Schultern, weltpolitisch. Aber auch innenpolitisch. Und da dann im ersten Angang nochmal in die Strafrunde quasi geschickt zu werden von seinen eigenen Leuten und dem Koalitionspartner ist schon bitter, zumal man ja den Eindruck haben konnte, dass die Koalitionsverhandlungen eigentlich sehr gut verlaufen sind, vergleichsweise harmonisch verlaufe. Ich glaube, dass es die Ursachen für die Abtrünnigen oder die Ursache dafür, dass es so viele Abtrünnige im ersten Versuch gab. Zu suchen sind in seiner Aktion gemeinsame Abstimmung mit der AfD im Bundestag, noch in der Zwischenphase zwischen Bundestagswahl und Kanzlerwahl, und auch in dem Abräumen seines unbedingten Bekenntnisses zur Schuldenbremse. Das waren nun schon zwei, also entschuldigt meine etwas flapsigen Worte, ganz, ganz dicke Klopper, für die er garantiert eigene Nolde verprellt hat. Und man muss sagen... Sowohl das Personaltabloh der Union als auch noch mehr sogar das Personaltabloher der SPD hat doch einen ziemlich großen Schnitt gemacht. Also da ist viel Neuanfang und viel Neuanfang bedeutet auch immer, dass einige, die sich Hoffnung gemacht hätten, noch weitermachen zu dürfen, eben nicht mehr weitermachend.
00:06:15: Florian Harms: Auch Schwergewichte wie Hubertus Heil beispielsweise, bisheriger Arbeitsminister, der ein sehr hohes Ansehen genießt in der SPD. Der ist nicht mehr dabei und war auch durchaus angefasst. Wenn du sagst, der erste Grund könnte das Abstimmungsverhalten von März mit der AfD gewesen sein, nämlich das auch so war, plus die Personalie Jens Spahn, den ja auch viele am linken Rand der SPD als, naja, sage ich mal, falschen 50er wahrnehmen, wenn es um die Frage geht, wie geht man mit der Demokratiegefährdung durch die AfD um. Der ist jetzt Fraktionsvorsitzender und möglicherweise gab es da eben ein paar Leute, die gesagt haben, na, mit der Mannschaft müssen wir mal anders umgehen. Den wollen wir zumindest mal einen vor den Buck schießen, um ihn zu signalisieren. Vorsicht, ihr könnt nicht euch alles erlauben.
00:07:00: Christoph Schwennicke: Interessant, dass formal die zwei Herren verantwortlich sind für dieses Wahldesaster, muss man sagen, die zugleich jetzt auch seine großen Wettbewerber und Konkurrenten ums Kanzleramt sind, um die Kanzlerschaft sind. Das ist nämlich Lars Klingbeil auf der einen Seite, der ja jetzt Finanzminister geworden ist, SPD-Chef, aber zu dem Zeitpunkt auch noch Fraktionschef. Also eigentlich dazu da, die Mehrheiten sicherzustellen. Und ebenso Jens Spahn, dessen Ambitionen ihm durch jede Pore dringen und der auch keinen Hehl daraus macht, dass er dorthin möchte, wo Herr Merz jetzt mit etwas Schwierigkeiten hingekommen ist. Also das wird spannend sein. Ich bin da hin und her gerissen, ehrlich gesagt. Bin gespannt, ob du eine eindeutige Meinung dazu hast. Es ist einerseits eben deshalb gewagt, Jens Spahn nicht in die Kabinettsdisziplin einzubeziehen, sondern eben die relative Beinfreiheit als Fraktionschef zu überlassen. Das ist eine Machtposition. Zugleich habe ich auch eine gewisse Achtung vor diesem Mut, den Merz da beweist, denn das erfährt ja nicht erst aus dem Podcast von t-online, dass Jens Spahn in etwaiger Konkurrenz sein könnte. Also das ist überhaupt so eine Sache über den Mut und manchmal vielleicht auch den Übermut von Friedrich Merz. Da können wir vielleicht gleich noch mal ein paar Worte drauf...
00:08:30: Florian Harms: Können wir auch direkt machen. Christoph, wir haben ihn ja beide auch erlebt im Wahlkampf. Wir haben ihn ausführlich interviewt. Wir hatten das Hintergrundgespräch mit ihm. Wir haben ihn auch jeweils unter vier Augen schon erlebt und getroffen. Und mein Eindruck von ihm ist ähnlich wie deiner. Er hat manchmal eine kurze Lunte. Er ist mutig. Er traut sich was zu. Er will auch Dinge bewegen. Aber ich habe ihn jetzt nicht als denjenigen erlebt. Und das unterscheidet ihn auch von Olaf Scholz, der die Dinge immer vom Ende her denkt und auf die lange Bank plant. Und insofern könnte ich mir vorstellen, dass er bei der Auswahl seiner Minister bei der Kabinettsriege wirklich erst mal Wert drauf gelegt hat, dass die Leute, mit denen er dann jeden Mittwochmorgen am Kabinettstisch sitzt, voll seine Linie mittragen und er das umsetzen kann, was er sich vorgestellt hat. Die Themen sind ja groß genug, aber vielleicht nicht. Ganz so weit durchdacht hat, was das bedeutet, an der Spitze der Fraktion, die er braucht, um die Gesetze durchzusetzen, jemanden zu haben, der möglicherweise sich zu einem Rivalen entwickelt.
00:09:26: Christoph Schwennicke: Ja oder eben vorher bei diesem Vorgang mit den Abstimmungen zur Migration gemeinsam oder jedenfalls billigend mit den Stimmen auch der AfD. Auch da, also ich bin da hin und her gerissen. Er ist authentisch dadurch, aber er macht sich eben auch verwundbar. Wenn er so einen raushaut, wenn ich das mal so sagen würde, einfach das so macht, er hätte das so nicht machen müssen. Er wollte damit zeigen, mir reicht es. Es wird mit uns eine Migrationswende geben. Übrigens, hat sich das jetzt auch gleich bewahrheitet. Herr Dobrindt hat jetzt die Grenzen erst mal so weit wie möglich da in der Hinsicht abgeriegelt. Sofort. Kaum im Amt. Aber es ist authentisch, aber es macht eben auch verwundbar und es schafft eben auch Gegnerschaften. Und da gibt es immer mal den Moment des Paybacks. Manchmal muss ich denken wie an so einen Biathleten, der einen Fehlschuss sich leistet und dann in die Strafrunde muss. Und wenn du die politische Biografie von Herrn Merz anschaust. Dann musste er schon sehr oft in Strafrunden, manchmal jahrzehntelang, das war dann die Rückkehr wieder in die Politik, er musste drei Anläufe nehmen, um Parteichef zu werden. Das war quasi das Basislager, von dem aus er das Kanzleramt überhaupt erringen konnte. Also ich sehe da ein gewisses Muster und das Muster ist, er leistet sich manchmal was, wo man sagen kann, wow, Hut ab für diesen Mut, Oder wo man sagen kann, hm. Das wird ihm noch zumindest ein Stück weit auf die Füße fallen.
00:10:55: Florian Harms: Zugleich nötigt mir das großen Respekt ab, denn das ist ja so, wenn du so lange kämpfst für eine Sache und immer wieder Rückschläge leitest. Und ich hab ihn damals auch erlebt bei diesen Parteitagen und bei den Touren, wo sie sich vorgestellt haben, er mit Kramp-Karrenbauer und Spahn damals, das war eine Ochsentour. Und dann hat er immer wieder den Nackenschlag der eigenen Leute der Partei bekommen, die ihm gesagt haben, du nicht Friedrich. Und trotzdem hat er weitergemacht und weitergemach und sich durchgekämpft und dann die Rivalität zu Frau Merkel auch noch, die ihm auch immer wieder in die Speichen gegriffen Und dann hat er sich an Scholz abgearbeitet und er hat wirklich auch viel Kontra bekommen, auch von der Presse. Und dann jetzt auch noch diese Geschichte mit dem Wahldrama und jetzt ist er endlich da, wo er hin will. Und natürlich solche Narben haben dann auch vielleicht Schwächen zur Folge, vielleicht stärken sie aber auch durch so eine Erfahrung.
00:11:41: Christoph Schwennicke: Unbedingt. Das sind natürlich Stahlbäder, durch die du da gehst. Übrigens bei dem Versuch, Parteichef zu werden. Wie gesagt, er musste erst zwei anderen noch den Vortritt lassen. Da hat er in Hamburg beim Parteitag einen eigentlich sicheren Sieg vergeigt durch eine, weiß ich gar nicht, katastrophale Rede. Eine abgehobene Rede damals. Eine Kanzlerrede hat er gehalten und keine Parteitagsrede. Ich dachte, ich stand da im Saal, dachte, ich höre nicht richtig. Wie kannst du? Wie kann man diesen Elfmeter nicht im Tor unterbringen? Selbst der Sozialflügel hat ja gesagt, ja der wird's und im Gott's Namen ist auch nicht so schlimm und so weiter. Mich erinnert er sozusagen vom Typus her und das klingt jetzt vielleicht ein bisschen seltsam, aber ich habe gerade in Frau Kramp-Karrenbauer da offensichtlich jemanden, die es aussieht, an Gerhard Schröder. Sie hat es unlängst bei irgendeinem unserer lieben Wettbewerber gesagt, dass sie in dieser Art, in dieser auch eher etwas impulsiveren Art Gerhard Schröder wieder erkennt und dass sie das auch gar nicht schlecht findet. Ich finde diese Beobachtung richtig. Und ja, Schröder hat sich das Leben auch manchmal schwerer gemacht als nötig. Nicht ganz so wie Friedrich Merz. Er hat zum Beispiel mit der Agenda 2010 so lange gewartet, bis er ganz sicher zum zweiten Mal als Bundeskanzler gewählt war. Und zwar nicht vom Volk bei der Bundestagswahl, sondern im Plenum von seinen eigenen Leuten. Erst danach hat er sich an die Agenda 2010 gemacht bzw. Hat sie publik gemacht, weil er genau wusste, dieses Ding schneidet auch bei meinen eigenen Leuten ganz tief ein.
00:13:10: Florian Harms: Aber das ist ein interessanter Vergleich mit Gerhard Schröder, denn wenn man den so erlebt hat, also den Schröders, wenn man mit dem zusammensitzt, dann ist der wirklich ein bisschen ähnlich wie Merz und Merz wie Schröder, sowas hemdsärmeliges, kumpeliges, so ja, komm lass mal und erzähl mal, so ganz anders eben als so eine Frau Merkel, die wirklich unnahbar ist, wo man erstmal auch versuchen muss, auch als Journalist herauszuspüren, wie tickt die eigentlich, was ist der wichtig, meint die das jetzt ernst oder nicht. Auch ganz anders als Scholz, wo ich immer das Gefühl hatte, der hat eigentlich eine Maske, ein Visier, das er runterklappt. Und es ist unheimlich schwer dahinter zu kommen. Da sind dann doch Schröder und Merz ähnlichere Typen. Jetzt hören wir uns aber nochmal an. Er wurde ja dann doch gewählt, der Friedrich Merz im Bundestag und das hörte sich dann so an.
00:13:50: Ton Bundestag 2: Mit Ja haben gestimmt 325 Abgeordnete. Mit Nein haben gestimmt 289 und Enthaltung eine. Der Abgeordnete Friedrich Marz hat die erforderliche Mehrheit von mindestens 316 Stimmen erreicht. Er ist gemäß Artikel 63 Absatz 2 des Grundgesetzes zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt worden. Ich frage Sie, Herr Abgeordneter Merz, nehmen Sie die Wahl an? Frau Präsidentin, ich bedanke mich für das Vertrauen und nehme die Wahl an.
00:14:30: Florian Harms: Ein relativ formeller Prozess, aber so muss das sein, gemäß dem Grundgesetz in der Demokratie und dann hat er seinen Amtseid abgeleistet.
00:14:37: Ton Bundestag 3 (Amtseid): Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, dass Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegenüber jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.
00:14:56: Florian Harms: So, und jetzt will er loslegen. Jetzt war er auch schon bei den Verbündeten in Paris, in Warschau, er war bei der NATO in Brüssel, bei der EU. Wird das jetzt ein starker Kanzler oder muss der jetzt wirklich bei jedem größeren Projekt fürchten, dass ihm die Abweichler in den eigenen Reihen wieder ein Bein stellen?
00:15:11: Christoph Schwennicke: Ich bin festgewillt, jetzt entgegen unseres Naturells als Journalisten das Gute und Positive und Helle und nicht das Dunkle zu sehen. In der Physik habe ich mal gelernt, damals in der Schule, dass Fliehkräfte, wenn sie gleichermaßen wirken, also gleichmäßig wirken in ihrem Inneren Stabilität herstellen. Und wir haben die Fliehkräfte erlebt. Das waren die 18, die ihm gefehlt haben, unter anderem, aber da wurde es halt richtig manifest. So, wenn ich jetzt davon ausgehe, dass diese Fliehkräfte einigermaßen gleich verteilt sind auf SPD und Union, also sagen wir mal neun auf jeder Seite, dann könnte sich ja vielleicht diese innere Stabilität, die Fliehkräfte in der Physik herstellen, ihm nutzen und wirklich eine starke Kanzlerschaft ermöglichen. Vielleicht ist es ja auch tatsächlich ein Weckruf dann gewesen für all diejenigen, die da ihr Mütchen gekühlt haben. Aber klar, also ein Kratzer hat er da weg. Da kann man nicht drumrum reden zugleich. Das hat man ja heute schon gesehen, mindestens Europa und irgendwie auch die Welt wartet natürlich jetzt auf eine neue Regierung in Deutschland. Deutschland ist nach wie vor ein sehr, sehr wichtiges Land. Und schon in der Reaktion von Macron konnte man den Bildern quasi ansehen. Macron und Scholz war immer ein bisschen schwierig. Wie froh er ist, dass Deutschland wieder eine Führung hat.
00:16:34: Florian Harms: Und um bei deinem Bild von den Fliehkräften zu bleiben, vielleicht wird diese Koalition ja auch noch dadurch zusammengeschweißt, dass die Opposition ja sehr stark ist. Also die größte Fraktion dort im Parlament ist die AfD, sie ist massiv gewachsen.
00:16:51: Christoph Schwennicke: Und immer noch wenn man da ins Plenum schaut, bekommt man ... muss man stutzen, weil dieses Kuchenstück so riesengroß ist von denen.
00:16:55: Florian Harms: Und die greifen ja massiv jetzt schon die neue Bundesregierung und den Kanzler an. Frau Weidel hat gleich wiederum seinen Abtritt gefordert und Neuwahlen gefordert. So und auf der anderen Seite sitzt dann außerparlamentarisch das Bündnis Sarah Wagenknecht und ist regelmäßig auch in den Medien präsent. Dann haben wir die Linkspartei erstarkt im Bundestag. Also die kriegen richtig Kontra jetzt.
00:17:19: Christoph Schwennicke: Die Grünen nicht zu vergessen. Die Grünen konnten immer schon Country und Western, also Regieren und Opponieren, insofern...
00:17:23: Florian Harms: Die werden die neue Regierung triezen, die werden Anfragen stellen, die kleinen Anfragen werden dann an Journalisten gegeben, dann wird es veröffentlicht und dann muss so eine Koalition halt auch zusammenhalten.
00:17:33: Christoph Schwennicke: Auch dieser Außendruck kann natürlich innere Stabilität geben. Ich will eine Sache noch sagen, weil ich heute irgendwie so das Gute sehen möchte. Also was wir da erlebt haben im Parlament im Nachgang dann zu der schiefgegangenen ersten Wahl war, fand ich gut. Und zwar deshalb in dieser Debatte um die Geschäftsordnung. Die musste ja geändert werden, zugunsten einer sofortigen zweiten Wahl. Sonst hätten wir drei Tage warten müssen und mit dem 8. Mai. Oh Gott, oh Gott. Natürlich hat die AfD das gemacht, was du gerade beschrieben hast. Also treten sie am besten gleich zurück. Ersparen sie uns diese Qualen und so weiter. Alles, was man da halt so sagt. Aber in den Abläufen absolut sauber. Sie haben auch gesagt, das ist in Ordnung aus unserer Sicht, dass wir jetzt sofort den zweiten Wahlgang haben. Und dann hatte es ja zunächst keiner so eilig wie Olaf Scholz Herrn Merz zu gratulieren. Das war schon hat ihm schon gratuliert, bevor er die Wahl angenommen hatte. Und dann kam aber sehr bald auch die AfD Leute. Weidel, Chrupalla und Herr Gauland haben ihm gratuliert. Gauland sogar mit einer Verbeugung. Alte Schule. Da würde ich sagen, ich will die nicht heilig sprechen. Aber sie haben sich in diesem Moment den parlamentarischen Anstand gelten lassen. Und haben ihnen diesen parlamentarischem Anstand gezeigt. Das hat mir gefallen, muss ich sagen. Die hätten auch ganz anders noch eskalieren können.
00:18:54: Florian Harms: Schön, wenn die demokratischen Institutionen und Prozesse auch so eine wilde Partei wie die AfD ein bisschen bändigen könnten. Aber du hast gerade noch was anderes gesagt, dass Scholz ihm gleich gratuliert hat. Als Merz dann ins Kanzleramt gefahren ist, am Abend nach seiner Vereidigung, ist er dort von Scholz empfangen worden und verabschiedet worden. Und dann hat er eine Rede gehalten, die habe ich mir angesehen und die fand ich bemerkenswert, weil... Merz sehr aufrichtig seinen großen Dank an Scholz übermittelt hat. Und wenn man die beiden erlebt hat im Wahlkampf, dann waren die sich ja schon spinnefein und sind auch einfach sehr unterschiedlich. Und dann hat er bei Merz gesagt, es gäbe, ich glaube, so sinngemäß in keinerlei Hinsicht etwas vorzuwerfen, Scholz und seinen Leuten, sondern sie hätten eben diese Amtsübergabe reibungslos und kollegial organisiert. Und das ist eigentlich ein super Zeichen für unsere demokratischen Prozesse.
00:19:43: Christoph Schwennicke: Ja, zumal nicht nur dieses behagene Wahlkampf, das ist normal, zum Bild dazu gehört, sondern auch der vorherige Umgang von Kanzler mit Oppositionschef. Und da hat sich Friedrich Merz ja sehr oft darüber beklagt, dass er sich von Scholz schlecht behandelt fühlen würde. Irgendwann haben sie dann, glaube ich, doch einen gewissen Draht zueinander gefunden. Und dann eben jetzt in dieser Endphase, das hat man Scholz übrigens den ganzen Tag lang angemerkt im Plenum, dass ihm daran gelegen war, dass das hier mit noch sozusagen so weit wie möglich noch mit Würde über die Bühne geht. Also der litt sichtbar daran, an dem was da stattfand und wollte alles dafür tun, dem entgegenzuwirken. Deswegen auch diese sofortige Gratulation seinerseits. Und natürlich sind solche Momente extrem wichtig für die politische Kultur in diesem Land. Du erinnerst dich bestimmt auch als Angela Merkel von Gerhard Schröder. Quasi den Schlüssel in die Hand bekommen hat des Kanzlamts, da hat sie ja auch gesagt, sie haben sich um dieses Land verdient gemacht und meinte damit die Agenda 2010, wie ich vorhin schon angesprochen hatte. Also ja, das sind Momente, wo man sagen muss, da erweisen sich eben echte Demokraten.
00:20:57: Florian Harms: Und dann müssen wir doch vielleicht noch mal kurz über diesen Olaf Scholz sprechen, denn wir sind ja beide, sowohl du Christoph als auch ich, wie viele andere Journalisten auch sehr ins Gericht mit ihm gegangen, haben ihn hart kritisiert und das war ja auch dieses fürchterliche Ampelchaos am Ende, für das er dann exemplarisch stand, was eigentlich kaum mehr zu ertragen war. Auf der anderen Seite ist schon eine Art gescheiterter Kanzler nach drei Jahren, das hat er sich sicherlich ganz anders vorgestellt, aber es ist nicht so, dass die Ampel und Scholz gar nichts erreicht hätten. Sie waren sehr gefordert, insbesondere durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Da haben sie aber schnell gehandelt. Da haben Sie entschlossen gehandelten. Sie haben Waffen geliefert. Schaue ich mal hier rüber. Lisa sitzt neben mir, Lisa Raphael und sieht ein bisschen skeptisch aus. Ich bleibe trotzdem mal dabei. Sie haben aber auch an anderer Stelle Dinge bewirkt, die gar nicht so öffentlichkeitswirksam diskutiert worden sind, wie beispielsweise. Achtung, es klingt technisch. Die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, zum Beispiel für den Netzausbau, also wenn es um die Energieversorgung geht. Das war vorher in der Merkel-Zeit wirklich ein Debakel, weil es kaum noch voran ging und weil es so viele Hürden gab für Neuinvestitionen, da hat die Ampel schon Schritte durchgesetzt und einiges geschafft. Also insofern fällt mein Urteil über Scholz und seine Kanzlerschaft, selbst wenn sie kurz war, jetzt doch etwas milder aus.
00:22:12: Christoph Schwennicke: Ja, das ist ja auch in Ordnung. Im Tagesgeschäft sind wir zwangsläufig ein bisschen kritischer und in der Rückschau historisierend sind wir dann etwas milder. Ich glaube, das geht in Ordnung so.
00:22:24: Florian Harms: Geht man mit uns irgendwann auch so um?
00:22:27: Christoph Schwennicke: Bei mir steht's näher als bei dir. (lachen beide)
00:22:29: Florian Harms: Weiß nicht, ein bisschen machen wir beide noch, oder? So, jetzt haben wir ja noch spannende Zeiten vor uns. Was kommt denn jetzt so als Erstes? Der Innenminister Alexander Dobrindt, du hast ihn vorhin erwähnt, Christoph, hat als erste Amtshandlung quasi mehr Polizisten an die deutschen Außengrenzen geschickt. Er lässt die Überstunden schieben. Er möchte, dass dort noch strenger kontrolliert wird. Das ist ja mal eines der Wahlversprechen, das März auch gegeben hat. Was kommt jetzt noch? Was ist im Hinblick auf die Wirtschaft zum Beispiel zu erwarten?
00:22:54: Christoph Schwennicke: Ja, es sind diese beiden Themen, an denen sich Wohl und Wehe dieser Kanzlerschaft und dieser Koalition, glaube ich, sehr schnell entscheiden. Weil wir haben jetzt ja über die Holprigkeiten gesprochen. Wenn aber auf diesen beiden Feldern also Migration in den Griff bekommen und Wirtschaft wieder flott machen. Wenn da, sagen wir mal, bis zum Sommer, bis zu August, Ende Juli jedenfalls erste Anzeichen da sind, dass sich was zum Besseren wendet, dann glaube ich, kann tatsächlich das gelingen, was Markus Söder in seiner unnachahmlichen Art gesagt hat, die AfD wieder klein zu regieren. Aber nur dann. Natürlich kannst du jetzt in zwei Monaten oder in zehn Wochen nicht die ganze Wende in beiden Feldern herbeiführen, aber du kannst schon zeigen oder es können sich erste Indizien dafür zeigen, dass es in die richtige Richtung geht. Und das ist für meine Begriffe. Auch der Grund, warum gerade Alexander Dobrindt, also der neue Innenminister, keine Sekunde hat verstreichen lassen, um sofort dieses Signal zu setzen. Also Schluss zu machen mit der, ich darf es mal so sagen, laissez faire Politik, wie sie jedenfalls lange Jahre Angela Merkel gemacht hat, wie es dann ein Stück weit von Frau Faeser zurückgedreht wurde, aber eben nicht so, dass es wirklich hilfreich ist. Und ich glaube, dass oder wirksam ist. Ich glaube, da könnte sich auch sehr schnell was rum sprechen. Das heißt, der Druck auf die Außengrenzen könnte dann nachlassen, weil die Menschen, die sich auf den Weg machen oder machen möchten, sehen, das geht alles nicht mehr so, wie es mal ging.
00:24:34: Florian Harms: Ja, und im Hinblick auf die Wirtschaft hat ja die neue Regierung versprochen, dass sie Super-Abschreibung ermöglichen möchte. Das heißt, dass in diesem und den nächsten beiden Jahren Unternehmen auf Investitionen, also wenn die beispielsweise neue Geräte kaufen, diese Kosten abschreiben können. Ist das ein echter Hebel?
00:24:52: Christoph Schwennicke: Also ich bin kein Wirtschaftsfachmann, es scheint mir aber jedenfalls der Versuch zu sein, ganz schnell auch hier erste Erfolge zu zeitigen, um eben dann sofort in einen Aufwind auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung zu kommen. Ich kann es nicht letztendlich beurteilen, muss ich redlicherweise sagen. Es leuchtet mir erst mal ein. Also wenn es eine irgendwie eine Agonie, so eine Lähmung... Gibt und ich löse diese Lähmung der Investitionen. Bei Investition damit ist ja gekauft deine Maschinen jetzt, du kannst sie ganz massiv abschreiben. Also wir geben dir letztlich ganz viel Geld dafür in Form von Steuererleichterungen. Dann kann das natürlich schon ein Anreiz sein. Ansonsten was jetzt die Unternehmenssteuerreform selber anlangt, sieht das alles ein bisschen wenig nach großem Wumms aus. Und auch noch, also da ist der Teufel noch im Detail, da müssen sich, glaube ich, SPD und Union auch noch auf was verständigen. Da hat man sich so ein bisschen durchgeschwiemelt im Koalitionsvertrag. Aber wenn das hier schon mal so eine Initialzündung erzeugte oder wäre, wäre schon was gewonnen.
00:26:02: Florian Harms: Und hinzu kommt ja, dass die sehr viel Geld verteilen können. Eine halbe Billion Euro für die Infrastruktur, also für Straßen, für Schienen, für Schulen und alles Mögliche andere. Und das ist natürlich schon ein sehr weiches Polster, auf das sich diese neue Regierung dort gesetzt hat. Wer Geld ausgeben kann, ist gerne beliebt, weil dann alle sagen, jawohl, nehmen wir gerne. Insofern könnte man schon erwarten, dass es jetzt ein bisschen vorangeht im Land. Christoph, du wirst ja mit deinen Reportern sehr eng verfolgen, was da jetzt passiert. Wir werden es kommentieren, du und ich auch im Tagesanbruch. Und dann schauen wir mal. Wir werden fair mit den Regierenden ins Gericht gehen. Wir bleiben kritisch bleiben, aber konstruktiv. Müssen wir noch irgendwas bedenken?
00:26:41: Christoph Schwennicke: Ich glaube, das ist eine gute Maxime, die du da ausgegeben hast, nach der wir bisher auch gehandelt haben und nach der, wir am besten auch weiter journalistisch handeln.
00:26:49: Florian Harms: Bei t-online ist man halt immer bestens informiert. Und damit sind wir am Ende dieses Podcasts angekommen. Wir beide bedanken uns herzlich bei Lisa Raphael für die Produktion und bei allen Hörerinnen und Hörern fürs Zuhören. Wenn Ihnen diese Folge gefallen hat, abonnieren Sie den Tagesanbruch als Newsletter auf t-online oder als Podcast überall, wo es Podcasts gibt. Wenn Sie Anmerkungen haben, schreiben Sie uns eine E-Mail an podcasts@t-online.de. Damit wünschen wir, Christoph Schwennicke und ich, Ihnen ein schönes Wochenende. Wir sagen Tschüss und bleiben Sie uns gewogen.
00:27:20: Christoph Schwennicke: Ja, ein schönes Wochenende. Das Wetter ist ja danach.