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00:00:01: Florian Harms: Hallo und herzlich willkommen zum Podcast Tagesanbruch. Die Diskussion für die erste Folge des neuen Jahres Am 11. Januar 2025 haben wir einen besonderen Gast eingeladen. Peer Steinbrück hat die deutsche Politik jahrzehntelang mitgeprägt. Er war Minister, Ministerpräsident, Kanzlerkandidat der SPD und dabei stets ein kritischer Kopf, der auch in seiner eigenen Partei oft genug aneckte. Genau der richtige Mann also, um mit uns über den beginnenden Bundestagswahlkampf zu sprechen. Hier sind Florian Harms.
00:00:33: Christoph Schwennicke: Und Christoph Schwennicke.
00:00:34: Florian Harms: Schön, dass Sie uns zuhören.
00:00:43: Florian Harms: Liebe Hörerinnen und Hörer, das neue Jahr hat begonnen. Wie das alte endete: turbulent. Kaum ist die Weihnachtsruhe vorbei, haben sich die Parteien in den Wahlkampf gestürzt. Nur noch sechs kurze Winterwochen bleiben ihnen, um die Bürger von ihren politischen Positionen und ihrem Personal zu überzeugen. Es geht um viel, weil viele Krisen schnelle Lösungen erfordern von der stotternden Wirtschaft über die steigende Kriminalität bis zur Frage von Krieg und Frieden. Gleich fünf Kanzlerkandidaten werben um die Stimmen der Menschen, so viele wie nie zuvor: SPD-Amtsinhaber Olaf Scholz, Friedrich Merz für CDU und CSU, AfD-Chefin Alice Weidel, Robert Habeck für die Grünen und Sahra Wagenknecht vom BSW. Wie ist das als Kanzlerkandidat? Was nimmt man da auf sich? Hat Olaf Scholz überhaupt noch eine Chance auf den Wahlsieg oder ist er längst unten durch? Warum wird die AfD immer stärker und was läuft falsch im deutschen Staat? Was muss dringend reformiert werden? Darüber sprechen wir heute mit einem Gast, von dem wir uns kundige Antworten erhoffen. Peer Steinbrück hat in der deutschen Landes- und Bundespolitik bleibende Spuren hinterlassen. Er war Minister in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, von 2002 bis 2005 Ministerpräsident in NRW, von 2005 bis 2009 Bundesminister der Finanzen und saß anschließend sieben Jahre lang im Deutschen Bundestag. Bei der Bundestagswahl 2013 trat er als SPD-Kanzlerkandidat gegen Amtsinhaberin Angela Merkel an und verlor. Seither meldet er sich in ausgewählten Momenten in Interviews und Talkshows zu Wort und kommentiert das politische Geschehen kompetent und erfrischend spitz. Heute ist er unser Gast im „Tagesanbruch“-Podcast. Herzlich willkommen, Peer Steinbrück.
00:02:22: Peer Steinbrück: Vielen Dank! Guten Morgen, die Herren!
00:02:25: Christoph Schwennicke: Herr Steinbrück, Sie haben etwas, was in diesem Land, in dieser Republik allenfalls zwei Dutzend Menschen haben Die Erfahrung als Kanzlerkandidat eine extreme Erfahrung. Nehmen wir mal an. Berichten Sie uns doch ein bisschen darüber. Wie ist das Leben in diesem Tunnel in diesen letzten Wochen, in denen sich jetzt Olaf Scholz und auch Friedrich Merz befinden?
00:02:48: Peer Steinbrück: Sie müssen immer an sich glauben und sie müssen auch glauben, dass sie Wahlen gewinnen können, selbst wenn jede Wahrscheinlichkeit dagegenspricht. Aber das hat mit Psychologie zu tun. Wenn Sie von vornherein verzweifeln und von vornherein das Rennen aufgeben, dann verlieren Sie noch 2 Prozent mehr als ohnehin.
00:03:07: Florian Harms: Aber wie ist das in so einer Situation? Konnten Sie da noch nachts ruhig schlafen oder schreckt man da nachts hoch? Ist man sozusagen nur komplett in einem Tunnel? Redet man überhaupt noch mit Freunden, Bekannten? Wie bleibt man da fokussiert?
00:03:19: Peer Steinbrück: Nein, das ist individuell sehr, sehr unterschiedlich, wie das jeweils abgearbeitet wird. Insofern kann ich nur für mich sprechen. Ich hatte immer den Vorteil in meinem Leben, dass ich auch in den größten Stresszeiten gut schlafen konnte, bis auf den heutigen Tag, was sehr erholsam ist, denn in der Tat schlafen sie in solchen Zeiten sehr wenig. Der Punkt ist, dass Sie sich in Stresssituationen völlig falsch ernähren. Ich habe irgendwann mal gesagt, ich habe diese belegten Brötchen vollkommen satt nach diesem Wahlkampf. Ich konnte sie nicht mehr sehen. Und die schnelle Bratwurst ist auch immer das Richtige. Sie müssen ja möglichst, wenn es geht, eine Umgebung um sich haben, die nicht nur reine Ja-Sager sind, die nicht nur eine Adlatus-Rolle haben und versuchen sie immer zu bestätigen, sondern die ein gewisses Feingefühl dafür haben, auf der einen Seite sie darauf aufmerksam zu machen, was man besser machen muss, auf der anderen Seite sie aber auch nicht, ja fast unwirklich emporzuheben, so dass sie nachher den Eindruck haben, Sie sind auf Wolke sieben.
00:04:20: Florian Harms: Welche Rolle spielt Alkohol in der Spitzenpolitik? Gerd Schröder hat damals ja im Wahlkampf auf Alkohol verzichtet. Ungewöhnlich für ihn.
00:04:27: Peer Steinbrück: Das ist ein sehr guter Rat, möglichst auf Alkohol zu verzichten oder sehr begrenzt, nur am Abend ein oder zwei Gläser Wein zu trinken. Das ist ein Rat, den ich nur allen Wahlkämpfern geben kann.
00:04:38: Florian Harms: Zwei Gläschen sind nicht so begrenzt. Ich hätte da... Aber es wahrscheinlich individuell verschieden.
00:04:44: Christoph Schwennicke: Genau.
00:04:45: Peer Steinbrück: Jedenfalls keinen harten Alkohol also mal ein Bier und zwei Gläser Wein ist völlig okay, aber es macht sich sofort bemerkbar, insbesondere wenn Sie täglich sich volldröhnen.
00:04:57: Christoph Schwennicke: Der aktuelle Kanzlerkandidat Ihrer Partei, der SPD, heißt Olaf Scholz. Wie blicken Sie auf seine Ausgangslage vor dem Endspurt?
00:05:06: Peer Steinbrück: Na ja, ich meine, die Wahrscheinlichkeit weist darauf hin, dass die SPD mit ihm an der Spitze erkennbar nicht die stärkste Partei wird. Aber Wahrscheinlichkeiten haben sich in manchen Wahlkämpfen auch schon gedreht. Das habe ich selber sehr stark erlebt. 2005, als Gerhard Schröder eine irrsinnig erfolgreiche Aufholjagd machte und die CDU mit Frau Merkel dachte, sie könnte ein Ergebnis oberhalb von 40 Prozent haben. Und dann war es am Wahltag nur ein Abstand von einem Prozent und man hat es noch mal 2021 gesehen, nämlich unter Beteiligung von Olaf Scholz. Das heißt, er steht sehr unter dem Eindruck des damals gewonnenen Rennens gegen alle Wahrscheinlichkeit und gegen viele Wahlprognosen. Auf der anderen Seite hat sich die Lage natürlich geändert. Er ist damals ein zuständiger, wichtiger Fachminister gewesen, aber heute ist er verantwortlich für die Gesamtpolitik. Und natürlich hat er drei Jahre hinter sich, in denen viele Menschen Erfahrungen oder Bewertungen über ihn vollzogen haben, die er heute in seinem Rucksack natürlich mit über die Hürden des Wahlkampfes schleppt. Und das mag in meinen Augen eine sehr weitgehend veränderte Ausgangslage sein für diesen Wahlkampf im Vergleich zu 2021. Bei der SPD spüre ich deshalb so ein bisschen Hypnose. Die Hypnose, man könnte einfach das Wunder von 2021, das Sommerwunder von 2021 wiederholen. Ich wäre das sehr viel vorsichtiger, um nicht zu sagen skeptischer.
00:06:34: Florian Harms: Hätte Boris Pistorius bessere Chancen gehabt, doch für die SPD das Kanzleramt zu verteidigen?
00:06:39: Peer Steinbrück: Das ist eine sehr theoretische Frage, weil ich mir nie vorstellen konnte, dass man einen amtierenden Bundeskanzler an die Seite stellen kann und ihm aus der eigenen Partei einen anderen Kanzlerkandidaten buchstäblich vor die Nase setzt, der ja dann einen Wahlkampf führen muss, der auch mit einer gewissen Abgrenzung, mit einer gewissen Distanz zu dem verbunden ist, was man vorher jedenfalls nicht so glücklich bestanden hat.
00:07:04: Christoph Schwennicke: Sie haben sich seinerzeit mit 93,5 % in geheimer Wahl auf einem Parteitag offiziell zum Kanzlerkandidaten wählen lassen. Olaf Scholz will an diesem Wochenende nur eine Abstimmung per Handzeichen. Ist das lediglich eine Stilfrage oder auch Furcht vor der Basis?
00:07:24: Peer Steinbrück: Schwer zu beurteilen. Ich halte immer viel von geheimen Wahlen, weil die ein ehrliches Stimmungsbild abgeben, wie man in der eigenen Partei gesehen wird. Was durchaus verbunden ist mit der positiven Erfahrung, dass diejenigen, die für einen nicht gestimmt haben, der hier im Wahlkampf trotzdem Wahlkampf machen und versuchen, die eigene Partei und auch den Kandidaten, den sie nun nicht gewählt haben, zu tragen. Insofern wäre ich immer dafür, dass es zu einer geheimen Abstimmung kommt, weil das, wie ich glaube, eine größere Legitimation darstellt als nur eine Akklamation durch Handzeichen, wo die meisten sowieso sich nicht trauen, mögliche Reservehaltungen zurückzuhalten nach dem Motto Das beschämt mich ja im Umkreis der anderen, die um mich herum sitzen.
00:08:11: Christoph Schwennicke: Der zweite Aspekt war mir gar nicht so bewusst, ehrlich gesagt, dass ich natürlich in einer geheimen Wahl, selbst wenn ich nicht dafür stimmen, hinterher beherzt Wahlkampf machen kann, ohne dass es seltsam aussieht. Der Punkt, auf den wäre ich gar nicht gekommen. Das ist interessant.
00:08:25: Florian Harms: Schauen wir noch mal auf Ihre eigene Erfahrung bei der Bundestagswahl 2013. Da haben Sie ja 25,7 Prozent geholt für die SPD, dennoch verloren. Heute, nur gut zehn Jahre später, wäre das aber ja wohl ein Sensationsergebnis für die SPD. Was ist da in der Zwischenzeit passiert? Bei den Sozialdemokraten oder zwischen der SPD und den Wählern?
00:08:45: Peer Steinbrück: Also ich habe mit 25,7 Prozent verloren. Olaf Scholz hat mit 25,7 Prozent gewonnen. Die sehr schillernde französische Figur von Talleyrand hat mal gesagt Hochverrat ist eine Frage des Datums. Und er musste es wissen, weil er mindestens sechs oder sieben Mal die Fronten gewechselt hat und er. Sieg und Niederlage bei Wahlen sind auch eine Frage des Datums. Aber seitdem hat sich natürlich vieles verändert. Für die SPD gilt in meinen Augen Sie hat und das hört sich jetzt sehr pathetisch an, sie hat ihre historische Mission verloren.
00:09:20: Christoph Schwennicke: Was meinen Sie damit?
00:09:21: Peer Steinbrück: Damit meine ich das und ich beziehe mich auf ein ganz interessantes Essay von Ralf Dahrendorf von, ich glaube 1988. Die SPD scheiterte an ihrem Erfolg, sagte er. Das klang zunächst mal sehr merkwürdig, aber er versuchte das darzustellen. Die SPD hätte im 20. Jahrhundert erhebliche Erfolge gehabt, indem sie den Kapitalismus gezähmt hat mit einer sozialen Marktwirtschaft, indem sie den Sozialstaat aufgebaut hat, indem sie Aufstieg durch Bildung organisiert hat. Und jetzt weiß sie nicht mehr, was ihre historische Mission ist. Und das erinnerte mich sehr stark daran, dass die SPD Anfang der Nullerjahre oder in den ersten zwei Jahrzehnten nicht mehr genau weiß Was ist ihre historische Mission? Und sie hat sich sehr stark darauf verlegt, aus der legitimen Interessen von Minderheiten parlamentarische Mehrheiten zu bilden. Und das hat nicht geklappt, sondern sie hat natürlich weitestgehend ihre Kernklientel, eine klassische gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerschaft, verloren. Im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen, in dem sich immer mehr Milieus herausgebildet haben. Aber sie hat nicht mehr gerade als Programmpartei versucht herauszufinden: Was ist eigentlich die Botschaft, die wir im 21. Jahrhundert zu senden haben? Und die hätte es meines Erachtens gegeben.
00:10:35: Florian Harms: Was wäre das denn?
00:10:37: Peer Steinbrück: Das wäre natürlich weiterhin der Zusammenhalt der Gesellschaft gewesen. Das wäre Deutschland in und mit Europa gewesen. Und vor allen Dingen wäre es unter dem Druck von Technologiegiganten, von Internetplattformen, von künstlicher Intelligenz die Frage gewesen Wie bewahre ich Freiheit unter diesem Druck technologischer Manipulationsmöglichkeiten?
00:10:57: Christoph Schwennicke: Aber wir sind uns einig: Diese Versäumnisse lassen sich in sechs Wochen Wahlkampf nicht wieder aufholen.
00:11:03: Peer Steinbrück: Nein. Und ich mache auch gar keinen Hehl daraus. Und das bezieht sich nicht nur auf die SPD, sondern es bezieht sich auf mehr oder weniger alle Parteien des Demokratischen Zentrums. Ihre Wahlprogramme werden den Herausforderungen, die aus einer Zeitenwende resultieren, definitiv nicht gerecht.
00:11:20: Florian Harms: Jetzt sprechen Sie da schon ein Thema an, was gerade an vielen Stellen diskutiert wird, nämlich der Umgang nicht nur mit Digitalkonzernen, sondern auch mit Populisten, die diese Plattform der Digitalkonzerne sehr raffiniert nutzen. Also muss man kein Geheimnis daraus machen, wie Donald Trump jetzt mit den sozialen Medien umgeht. Das hat wesentlich zu seinem Erfolg beigetragen. Hierzulande haben wir jetzt zwei populistische Parteien, die im Aufwind sind: AfD und BSW. Und die schwingen sich, vor allem die AfD, jetzt in immer neue Höhen. Gerade in dieser Woche ist wieder eine neue Umfrage rausgekommen, dass die AfD noch mal zugelegt hat. Warum ist das so? Liegt das nur an diesen Plattformen oder was läuft da schief in der Gesellschaft?
00:11:58: Peer Steinbrück: Ja, die sind natürlich Verstärker. Die sind das, was kundige Leute nennen würden: Amplifier. Die verstärken die Tonlage. Und sie bieten einen Resonanzboden, auf dem sich andere dann tummeln und diese Verstärkung immer weiter fortsetzen. Aber mein Ausgangspunkt ist, die etablierte Politik unterliegt dem, was ein kluger Politikwissenschaftler beschrieben hat mit Beschreibungsangst. Und diese Beschreibungsangst, die ist davon geprägt, bestimmte Probleme, große Herausforderungen und Umbrüche möglicherweise dem breiten Wählerpublikum nicht so deutlich zu erklären und zu vermitteln, aus Angst, man würde sie in die falschen Arme treiben.
00:12:35: Christoph Schwennicke: Das heißt konkret?
00:12:37: Peer Steinbrück: Also nehmen wir mal Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas. Nehmen wir mal den Druck, den demografischen Druck auf die sozialen Sicherungssysteme. Nehmen wir mal die Tatsache: Wie entwickelt sich das Wirtschaftsmodell Deutschlands vor dem Hintergrund massiver global ökonomischer Umbrüche? Was müssen wir tun, um mehr Arbeit zu aktivieren? Vor dem Hintergrund auch, dass die Arbeitsproduktivität in Deutschland deutlich abnimmt? Wie steht es um Verteilungskonflikte knapper öffentlicher Mittel mit Blick auf geradezu sich aufdrängende große öffentliche Infrastrukturprojekte? Das wird in meinen Augen nicht so klar beim Namen genannt, wie es an den notwendig wäre. Und daran ist auch nicht geknüpft eine erkennbare politische Lösungskompetenz. Das hinterlässt ein Vakuum. Und in dieses Vakuum drängen eben Parteien in einem teilweise irrlichtern denn teilweise auch rechtspopulistisch und rechtsradikalen Parolen mit einfachen, aber falschen Antworten.
00:13:37: Christoph Schwennicke: Noch mal zu diesem Stichwort Beschreibungsangst. Es gibt ja viele, die sagen, wenn wir die Probleme beispielsweise der Migration benennen, dann treiben wir mit diesem benennen die Wählerinnen und Wähler nur in die Arme der AfD. Diese These würden Sie demnach nicht teilen?
00:13:53: Peer Steinbrück: Nein, weil weite Teile des Publikums die Probleme ja fast täglich erfahren. Also kann ich an deren Bewusstsein, an deren Wahrnehmungen ja nicht vorbei argumentieren. Mir wird zwar zu sehr die Problematik der Integration dargestellt und zu wenig die gelungene Integration, die es gibt. Das halte ich für einen massiven Fehler, denn ich bin täglich auch in Erfahrung mit gelungener Integration. Egal ob ich im Krankenhaus bin und es mit einem Anästhesieassistent aus Syrien zu tun habe oder in einem in einem Lebensmittelladen oder bei Pflegern überall habe ich es mit gelungener Integration zu tun. Aber das, was im Mittelpunkt steht für viele, sind die misslungenen Beispiele der Integration und die zu verdrängen gegen die gegen das Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung ist natürlich ein massiver Fehler.
00:14:42: Florian Harms: Ist das nur eine Frage der Benennung, wie man darüber redet oder es eben verdrängt? Oder ist es auch eine ganz konkrete Frage der besseren oder schlechteren politischen Lösungen? Was ist schief gelaufen in den vergangenen Jahren?
00:14:54: Peer Steinbrück: Ja, natürlich muss sich an die Beschreibung auch eine Lösung anschließen. Der Punkt ist nur, dass viele Lösungen nicht mehr einfach zu handhaben sind. Auch das muss sie vermitteln. Also ein Herr Merz, der sich gerade hingestellt hat und gesagt hat, alle Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund, die einen deutschen Pass haben, aber straffällig geworden sind, den sollte der Pass weggenommen werden, ist natürlich eine völlig idiotische Bemerkung, weil das rechtlich gar nicht geht. Er ist übrigens der nächste Vorwurf an die Politik, immer etwas in Aussicht zu stellen, was sich gar nicht umsetzen lässt. Aber man wird auch mehr denn je darauf hinweisen müssen, dass bei diesen komplexen Problemen nicht einfache Lösungen einfach zu kriegen, aber man trotzdem natürlich an Lösungen arbeiten muss. Das ist der eine Punkt und der andere Punkt, der glaube ich maßgeblich ist für den Zulauf rechts und links, BSW und AfD: Viele Menschen haben den Eindruck, dass die staatliche Handlungs- und Funktionsfähigkeit nicht mehr gegeben ist oder jedenfalls eingeschränkt ist. Ich will vorsichtiger formulieren.
00:15:54: Christoph Schwennicke: Die Folgen von dem, was Sie gerade als Versäumnisse beschreiben, haben wir manchmal schon in anderen Ländern quasi vorhersehen können, beispielsweise auch in Österreich. Und dort steht jetzt der Rechtsextremist Herbert Kickl vor der Wahl zum Bundeskanzler. Ist das ein Warnsignal für Deutschland? Kann man da was ableiten davon?
00:16:14: Peer Steinbrück: Ja, weil uns Österreich vielleicht auch schon sprachlich näher ist. Aber wir haben dasselbe ja bereits auch in der Slowakei. Wir haben es in Ungarn, wir haben es in der Tendenz auch in den Niederlanden. Wenn ich an Herrn Wilders denke, wir haben es in Italien und mit größten Bedenken guckt man auch im Augenblick auf gewisse Lähmungserscheinungen in Frankreich. Das heißt, wir haben es inzwischen ziemlich weitgehend in Europa mit Entwicklungen zu tun, wo mich jedenfalls die Frage umtreibt, ob Europa gegen den Hintergrund weltweiter globale Herausforderungen eigentlich noch so gewappnet ist, um sich zu behaupten und grenzüberschreitend und in einer weiteren europäischen Integration die Probleme zu lösen.
00:16:54: Florian Harms: Bei der Frage, wie man sich behauptet, geht es natürlich auch um Donald Trump, den nächsten US-Präsidenten, der am 20. Januar ins Weiße Haus einzieht. Der macht jetzt schon täglich oder gar stündlich Schlagzeilen mit abstrusen Ideen. So muss man es wohl sagen. Also wenn man auf Grönland schaut. Oder er will den Panamakanal für die USA wieder haben. Wie spricht man als deutsche neue Bundesregierung mit so einem US-Präsidenten? Was würden Sie da raten?
00:17:20: Peer Steinbrück: Ja, das ist die eine Billion Dollar Frage. Ja, ich bin sprachlos, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass sagen wir mal, designierter amerikanischer Präsident bereits im Vorfeld seiner Inauguration eine solche Liste von wirklich irrlichternden bis verrückten bis exzentrischen Vorstellungen macht. Darauf hat man einfach zunächst mal keine, jedenfalls rational eingängige Antwort. Die einzige, die mir heute Morgen eingefallen ist: Er überzeichnet so stark aus taktischen Gründen, um letztlich von zehn Verrücktheiten, die er in die Welt setzt, zwei wirklich durchsetzen zu können. Das heißt, irgendwann wird er die Umbenennung des Golf von Mexiko in den Golf von Amerika aufgeben, wenn er dafür den Eindruck hat, er würde Einfluss in Grönland gewinnen wegen der dortigen Rohstoffe.
00:18:08: Florian Harms: Also "cold blooded" bleiben, kühles Blut bewahren, wenn man mit so jemandem umgehen muss.
00:18:13: Peer Steinbrück: Das ist das eine. Das andere ist, dass Europa sich formieren müsste. Und dann sind wir bei der vorher uns ziemlich gruselig erscheinenden Lage, dass Europa sehr viel fragmentierter ist als wir, als wir es je für möglich gehalten haben, jedenfalls noch vor fünf oder zehn Jahren. Dieses Europa wird sich mehr denn je auf einen amerikanischen Präsidenten einstellen müssen, wo es mehr selbst Verantwortung übernehmen muss und sehr viel Einigende auftreten muss, um mit internen und auch externen Herausforderungen fertig zu werden.
00:18:44: Florian Harms: Zum Stichwort Reform geht es ja auch um Deutschland, und da würden wir gerne noch einmal zu sprechen kommen. Auf die Initiative, die Sie gemeinsam mit dem CDU-Politiker Thomas de Maiziere und dem ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle gegründet haben, nämlich die Initiative für einen handlungsfähigen Staat. Ein bemerkenswerter Name. Der Bundespräsident hat die Schirmherrschaft übernommen. Ist Deutschland Ihrer Ansicht nach wirklich handlungsunfähig?
00:19:10: Peer Steinbrück: Nein, das ist eine Überzeichnung, genauso wenig wie Deutschland der kranke Mann in Europa ist, genauso wenig wie die EU. Das heutige Deutschland an Weimar erinnert. Das sind alles, wie ich glaube, ziemlich abwegige Bewertungen. Aber wir stehen unter einem enormen Druck. Das Wirtschaftsmodell Deutschland steht unter dem Druck mit seinem starken Industrieanteil vor dem Hintergrund von Wettbewerbsverschiebungen, insbesondere aus dem asiatisch pazifischen Raum. Auch Stichwort China. Wir stehen unter einem demografischen Druck, der von großer Bedeutung ist, nicht nur mit Blick auf die Frage von Fachkräften, sondern auch die Finanzierung von Sozialsystemen. Wir haben es mit einer zu geringen Arbeitsproduktivität zu tun. Unsere Infrastruktur ist stark sanierungsbedürftig, die Bildung ist unterfinanziert, wir sind überbürokratisiert. Also das sind alleine fünf oder sechs Stichworte, wo es einen erheblichen Reformbedarf gibt, Form, Dringlichkeiten. Und uns interessiert an dieser Initiative nicht etwa Wie sieht eine Reform der Altersversorgung aus, Wie sieht eine Reform der Unternehmenssteuern aus? Sondern uns interessiert, was sind die strukturellen, die organisatorischen, die verfahrenspolitischen Bremsklötze in Deutschland für Reformen? Was sind die Freiheiten, die dazu führen, dass wir nach der Agenda 2010, vor mehr als 20 Jahren kein umfassendes, kohärentes Reformprogramm mehr zustande gebracht haben, obwohl wir es drehen?
00:20:39: Christoph Schwennicke: Es gibt ja die eine zunehmende Staatsverdrossenheit. Ich glaube, deswegen haben Sie sich dieser Sache ja auch angenommen. Wo liegt denn in diesem, in dieser Verbindung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Staat? Wo liegt denn da im Moment der Hund begraben? Warum ist da irgendwie der Faden ein Stück weit gerissen?
00:20:59: Peer Steinbrück: Mein Eindruck ist, dass ziemlich banal viele Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, vieles funktioniert nicht. Das erfahren sie auf Ämtern. Das erfahren Sie mit Blick auf die mangelhafte Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Das erfahren Eltern, wenn sie die Schulen ihrer Kinder besuchen. Das erfahren diejenigen, die wie ich viel mit der Deutschen Bahn fahren müssen. Das erfahren viele, die als Unternehmer und als Manager mit einer Bürokratisierung zu tun haben. Das erfahren viele, die schlicht und einfach den Verfall auch anderer öffentliche Infrastruktur sehen. Und der haben wir den Eindruck, bis hin zu Fragen der inneren Sicherheit auch, dass der Staat seine Funktion nicht mehr ausreichend erfüllen kann. Und das führt natürlich zu einer ziemlichen Distanz und mehr als Enttäuschung. Meine Wahrnehmung ist, wenn die neue Bundesregierung, egal wie sie sich zusammensetzt, in der nächsten Legislaturperiode diesen Vertrauensverlust in die staatliche Handlungs- und Funktionsfähigkeit nicht entspricht, das heißt es nicht wenden kann, dann werden wir bei der übernächsten Bundestagswahl, die turnusgemäß sich dann irgendwann 2029 wäre es mit einer Nagelprobe auf unser demokratisch-parlamentarisches System zu tun haben. Und erste Einblicke davon können Sie in Frankreich gerade ablesen.
00:22:15: Florian Harms: Das heißt, dann wäre mit einem Wahlsieg der AfD zu rechnen?
00:22:18: Peer Steinbrück: Nein, das ist mir zu voreilig. Aber wenn dieser Vertrauensverlust in diese politische Lösungskompetenz und in die staatliche Handlungs- und Funktionsfähigkeit weitergeht, dann wird das Parteiensystem in Deutschland weiter fragmentieren. Und unsere politische und wirtschaftliche Ordnung wird darüber weiter in Frage gestellt. Es heißt, die nächsten Regierungen, die nur an Symptomen herumdoktern oder wie in den Wahlprogrammen von vielen Parteien im Augenblick dargestellt, nur mit dem Füllhorn glaubt, alles bedienen zu können, eine Wünsch-dir-was-Liste und zwar bei fast allen Parteien, durchgängig zu meinem Entsetzen, statt zu sagen Liebe Leute, dieses Land muss dringend in manchen Grundfesten reformiert werden. Das ist mit Zumutungen verbunden, das ist auch mit Anstrengung verbunden. Wir werden unseren Wohlstand auch nicht mehr anstrengungslos aufrechterhalten können vor dem Hintergrund globaler Verschiebungen. Das, worauf wir achten. Dass die damit verbundenen Zumutungen und Lasten sehr verteilt werden.
00:23:17: Florian Harms: Aber mit Zumutungen gewinnt man halt keine Wahlen, oder?
00:23:20: Peer Steinbrück: Das weiß ich nicht. Ich glaube, man unterschätzt das Wahlpublikum. Die meisten Bürgerinnen und Bürger, jedenfalls soweit sie nicht völlig abgedriftet sind und das ist eine Minderheit in meinen Augen, hat eine klare Vorstellung davon, dass dieses Land unter Reform-Dringlichkeiten zu leiden hat und dass die angepackt werden müssen. Alle wissen diese Gesellschaft wird älter. Alle wissen, dass die sozialen Systeme damit unter Finanzierungsprobleme geraten. Und trotzdem schiebt die Politik vor sich hin eine umfassende Reform der Altersversorgung. Dasselbe gilt mit Blick auf Teile unseres Steuersystems. Dasselbe gilt mit die auf die zentrale Frage der Verteidigungsfähigkeit vor dem Hintergrund weiter laufender Aggression von Putin, die nicht mehr zu fassen sind. In der in meinen Aufsatz dämlichen Gegenüberstellung von Frau Wagenknecht Krieg oder Frieden? Er führt längst Krieg gegen uns, einen hybriden Krieg auf allen Ebenen. Es heißt also über die militärische Verteidigungsfähigkeit reden wir längst, über Cybersicherheit, über Zivilschutz, über Heimatschutz, alles, was damit zusammenhängt.
00:24:23: Christoph Schwennicke: Sie haben das gerade schon angerissen, Herr Steinbrück, viele Ursachen von Problemen, auch Ursachen von Vertrauensverlust liegen gar nicht mehr im unmittelbaren Wirkbereich nationaler Politik, sondern im Ausland Syrien, Nahost, Ukraine, Russland oder auch bei Social Media Konzernen. Jetzt mal einen größeren Kontext gefragt: Haben Regierungspolitiker, haben Regierungen überhaupt noch die gleiche Gestaltungsmacht wie weiß ich nicht vor 20, 30 Jahren? Oder gibt es da inzwischen Player, die mindestens auf Augenhöhe da mitspielen und die nicht regieren, die NGOs sind? Oder halt große Unternehmen mit riesigen unternehmerischen Interessen dahinter?
00:25:06: Peer Steinbrück: Ja, das eine sind die Technologiemagnaten und Musk ist damit die Symbolfigur, der ja selbst in den USA zu meinem Entsetzen geglaubt hat, er könnte den Kongress über Steuern, da, wo es um die Haushaltspolitik ging. Aber es sind nicht nur die Technologiegiganten, die der Auffassung sind, dass Gesellschaften besser über die von ihnen entwickelten Algorithmen gesteuert werden als über demokratische Entscheidungsprozesse. Und es sind auf der anderen Seite das, und da stehe ich unter dem Druck des jüngsten Buches von Herrn Appelbaum. Es ist eine Achse der Autokraten, und das hat es so vor ungefähr zehn, 15 Jahren noch nicht gegeben, dass wir eine solche Konfrontationsposition haben des in Anführungszeichen globalen Westens, also unseres demokratisch-parlamentarischen Systems im Verhältnis zu sehr autokratisch regierten Ländern, die darüber auch noch in der Tat eine politische Achse bilden, unabhängig davon, dass sie teilweise unterschiedliche Interessen haben. Das sind zwei Rahmenbedingungen, die es so jedenfalls als ich noch Mitglied der Bundesregierung gewesen bin, nicht gegeben hat.
00:26:14: Florian Harms: Eine sorgenvolle Beschreibung. Stellen wir uns aber doch zum Abschluss noch mal vor, vielleicht ein etwas lichtvollerer Ausblick, wir würden dieses Gespräch am Ende der nächsten Legislaturperiode in vier Jahren führen, also im Jahr 2029. Sie haben es vorhin auch angerissen. Was müsste Deutschland bis dahin geschafft haben, um gestärkt aus der gegenwärtigen Krise oder den gegenwärtigen Krisen herausgekommen zu sein?
00:26:38: Peer Steinbrück: Abstrakt formuliert, glaube ich, dass dieses Land in der Lage ist, unter dem Problem Druck, wenn er erkannt, wahrgenommen und anerkannt ist, immer in der Lage gewesen ist, sich anzustrengen und mit dem Problem fertig zu werden. Es hat es in der Geschichte unseres Landes mehrfach gegeben. Dieses Land hat nach wie vor enorme Potenziale tüchtige Leute, qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, irrsinnige Wissenschaftspotentiale, universitär und außeruniversitäre und es ist nach wie vor wirtschaftlich stark. Aber es wird sich mit der Frage beschäftigen müssen: Wie soll unser Wirtschafts-, unser Industriemodell in der Perspektive der nächsten 5 bis 10 Jahre aussehen? Es wird erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen mit Blick auf seine Verteidigungsfähigkeit und es wird in Technologie investieren müssen und in Existenzgründung, die technologie-orientiert sind. Es wird erkennbar darauf hinauslaufen, dass wir mehr werden arbeiten müssen. Ich sage gesamtwirtschaftlich mehr arbeiten müssen. Ich sage nicht jeder individuell, aber vor dem Hintergrund der schlechten Produktivität, die wir inzwischen haben, wird die Ansage sein müssen: Wir werden uns anstrengen müssen. Wir werden dieses Wohlstandsniveau und über diesen Wohlstand auch unser Sozialniveau nicht anstrengungslos weiter aufrechterhalten können. Und es wird eine Kernaussage einer neuen Bundesregierung sein müssen, und sie wird daraus auch entsprechende Maßnahmen ableiten.
00:27:58: Florian Harms: Wir werden uns anstrengen müssen. Spannende Antworten zu brisanten Themen. Damit sind wir am Ende dieses Podcast angekommen. Herzlichen Dank an Peer Steinbrück.
00:28:07: Peer Steinbrück: Ich danke herzlich.
00:28:09: Florian Harms: Und vielen Dank auch an Lisa Raphael, die diesen Podcast produziert hat. Wenn Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, unser Gespräch gefallen hat, dann empfehlen Sie diesen Podcast gerne weiter. Falls Sie Fragen haben, schreiben Sie uns eine E-Mail an podcasts@t-online.de. Ihnen allen herzlichen Dank fürs Zuhören. Christoph Schwennicke und Florian Harms sagen Tschüss! Und bleiben Sie uns gewogen.