Tagesanbruch von t-online

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00:00:02: Gesine Schwan: Es gibt keinen Konsens darüber, wie viel Ungerechtigkeit geht und wie viel nicht mehr geht. Wenn die AfD eine blockierende Minderheit dagegen wäre, könnte sie dafür sorgen, dass dieses Verfassungsgericht personell austrocknet.

00:00:19: Lisa Fritsch: Hallo, zu "Tagesanbruch - die Diskussion" für das Wochenende vom 18. Mai 2024. Ich bin Lisa Fritsch, moderiere dieses Format und diesmal blicken wir auf den 75. Jahrestag unseres Grundgesetzes. Und das tun wir mit keiner Geringeren als einer Frau, die Demokratie immer stark verteidigt hat und es immer noch tut. Gesine Schwan. Wir fragen: Wie zeitgemäß ist unser Grundgesetz noch? Was müsste man ändern, herausnehmen oder ergänzen? Und wie stark ist es vor der wachsenden Gefahr des Extremismus geschützt? Und damit begrüße ich Sie jetzt ganz herzlich, die Gründerin der Berlin Governance Plattform, die sich für die Stärkung der Demokratie einsetzt und auch Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, Gesine Schwan. Hallo Frau Schwan, schön, dass Sie sich die Zeit heute nehmen.

00:01:14: Gesine Schwan: Hallo liebe Frau Fritsch.

00:01:16: Lisa Fritsch: Und den Chefredakteur von t-online, Florian Harms.

00:01:19: Florian Harms: Hallo, ich freue mich auf die Diskussion.

00:01:21: Lisa Fritsch: Ja, am 23. Mai 1949 ist das Grundgesetz in Kraft getreten. Zuvor hatten es 61 Männer des sogenannten Parlamentarischen Rates und vier Frauen, diese sogenannten Mütter des Grundgesetzes erarbeitet. Alles zu einer Zeit der Berliner Blockade, bei der die Sowjetunion versuchte, die westlichen Alliierten aus Berlin herauszudrängen. Heute fühlt es sich am Alltag oft so an, als wäre das Grundgesetz und auch alles, was irgendwie im Bundestag beschlossen wird, weit weg von uns. Was würden Sie sagen, Frau Schwan, mit welchem Artikel sind wir aktuell am meisten in Berührung oder mit welchem Artikel des Grundgesetzes haben Sie eine persönliche Verbindung?

00:02:00: Gesine Schwan: Also meine persönliche Verbindung ist gleich mit dem Artikel eins, dass die Würde des Menschen unantastbar sind. Das prägt unsere Demokratie. Dass es nicht eine Frage der Abstimmungsmaschinerie, der Mehrheiten, der Institutionen ist, sondern dass Demokratie die Regierungsform, aber auch die Lebensform und die politische Kultur ist, in der die Würde der Menschen, so gut es irgend auf Erden geht, geschützt werden muss. Wenn da steht ist im Indikativ ist unantastbar, dann ist sie natürlich Wirklichkeit antastbar. Und deswegen müssen wir sie eben schützen. Das ist sozusagen ein lehrerisch gesprochen, ein normativer Indikativ. Das heißt, das ist eine Vorschrift, und es ist nicht eine, eine Bestandsaufnahme. Also dieses Grund, dieser Grundmotor ist für mich immer wichtig gewesen, wenn ich mich eingesetzt habe für Demokratie, was schon aus meinem Elternhaus kam. Ich bin in einem sehr politischen Haus groß geworden. Meine Eltern waren im Widerstand und ich wurde sozusagen von vornherein mein Bruder mit der Aufgabe von meinen Eltern befasst. Und das wurde uns eben aufgetragen, dass wir uns für bessere Politik einsetzen müssen, dafür, dass so was nicht wieder passiert usw. Ob das Grundgesetz doch zeitgemäß ist? Da würde ich sagen eindeutig. Wir sehen ja, dass gerade Bundesverfassungsgerichtsurteile dauernd einen aktuellen politischen Diskurs, und zwar einen heftigen, auslösen. Das heißt, es ist angesetzt drauf und man muss nun überhaupt sagen, Verfassung sind nicht dazu da, tagesaktuelle Gesetze zu sein, sondern ein Rahmen zu sein, der über Jahrzehnte hinweg und wirklich so lange, wie es irgend geht. In den Vereinigten Staaten ist das ja schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts so, dass diese Verfassung so lange einen Rahmen bieten, und das Alter ist in diesem Falle eine sehr positive Komponente oder eine positive Voraussetzung, weil damit eben sehr, sehr viele unterschiedliche historische kulturelle Situationen eingefangen werden und damit das Gesetz nicht ad hoc für irgendeine bestimmte Frage formuliert ist, sondern eben ein Gesetz, eine Verfassung ist, die auf sehr viele verschiedene Situationen und Aspekte eingerichtet ist. Und das fördert die Gerechtigkeit. Und insofern ist das Alter überhaupt keine negative Seite bei der Verfassung, sondern im Gegenteil etwas sehr Positives, was mich natürlich freut, wo ich bald 81 werde.

00:04:28: Lisa Fritsch: Ja, das stimmt. Ich würde mal bei der Frage bleiben, ist das Grundgesetz noch zeitgemäß? Es hat sich ja auch vieles verändert, jetzt auch in Bezug auf das Asylrecht. Zum Beispiel wurde immer wieder was hinzugenommen und auch gestrichen. Florin Würdest du denn Frau Schwans Aussage zustimmen, dass es noch zeitgemäß ist?

00:04:46: Florian Harms: Ich glaube, es ist auf jeden Fall noch zeitgemäß, vielleicht zeitgemäßer denn je oder seit langem, weil wir ja gerade sehen Wir sind mit so vielen Krisen konfrontiert, über die wir auch häufig in diesem Podcast sprechen. Wir brauchen einfach eine stabile Grundlage für unseren Staat, auf die wir uns immer wieder vergewissern können. Und diese Grundlage bildet das Grundgesetz am Anfang mit diesen wichtigen Artikeln. Frau Schwan, Sie haben gerade gleich den ersten genannt mit dem Menschenwürde. Der zweite beschreibt ja die freie Entfaltung der Persönlichkeit einer jeden Bürgerin, eines jeden Bürgers, solange man eben nicht andere beeinträchtigt. Ein weiterer wichtiger Artikel ist Nummer 20, wo eben festgelegt ist, was für ein Staat das hier ist eben ein demokratischer, sozialer Bundesstaat, bei dem die Bundesländer gemeinsam das Staatswesen bilden, also sozusagen die Bundesebene und nicht umgekehrt der Bund sich die Länder hält. Und deshalb sind wir eben auch in vielen Diskussionen bei der Lösung der Probleme so aufgestellt, wie wir es gerade sind. Wir haben das ja während der Corona Pandemie gesehen. Da gab es viel Kritik auch daran, an diesen Ministerpräsidenten Konferenzen. Warum dauert das so lang? Warum sagt denn der Bayer dies und der Bremer jenes? Na ja, weil das die Grundverfassung unseres Staates ist. Das ist grundsätzlich festgeschrieben. Die Bundesländer. Bilden gemeinsam diesen Staat. Und das ist etwas Wichtiges, was wir uns auch immer wieder klarmachen müssen.

00:06:04: Lisa Fritsch: Und in dieser Woche wurde der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke verurteilt, weil er in einer öffentlichen Rede die Parole Alles für Deutschland verwendet hat. Es stellt sich also immer wieder die Frage auch, die im Grundgesetz auch relevant ist Wo fängt Rechtsextremismus an, wo hört er auf? Was fällt noch unter Meinungsfreiheit, wie Höcke das selbst beklagte, dass diese ihm mit dem Urteil genommen wird? Und dabei geht es ja auch dezidiert um Sprache, um populistische Sprache, die verbreitet wird. Frau Schwan, warum ist diese Auseinandersetzung und jetzt dieses Urteil so wichtig für unsere Demokratie?

00:06:38: Gesine Schwan: Weil sich natürlich nicht alles für das Zusammenleben eines Mannes, einer Gesellschaft, eines Volkes, einer Gesellschaft in Demokratie und Freiheit und aber auch in Solidarität in einzelne Rechtsparagrafen fassen lässt. Man kann nicht alles mit einem Paragrafen sichern. Es gehört dazu auch, dass diese Gesellschaft oder das Land die Menschen Einstellungen haben, Überzeugungen haben, für die sie eintreten, die mit dem Grundgesetz und der unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung in Übereinstimmung sind. Und diese Verbindung von politischer Kultur und Regierungssystem und Institutionengefüge wird dann an bestimmten neuralgischen Stellen und die betreffen natürlich vor allen Dingen den Zusammenhang zwischen der jetzigen Bundesrepublik Deutschland und dem früheren nationalsozialistischen Deutschen Reich. Wenn wir diese Verbindung eventuell wieder lebendiger wird. Und das geschieht dann, wenn man Parolen aus der früheren Zeit, die damals ja auch eine bestimmte Bedeutung hatten und die auch was wollten, politisch, wenn man die wieder aktualisiert. Es ist ja auch bekannt, dass Björn Höcke dies als eine politische Strategie betreibt, auch dann so, um an die Grenze dessen zu gehen, was man noch machen kann, aber vor allen Dingen den Raum dessen zu auszuweiten, was als normal gelten kann, damit man dann nicht mehr sagt. Auch das wir kommen sozusagen langsam weg vom Terrain der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Deswegen ist das sehr wichtig, dass sowas auch statuiert wird. Genauso wie die Frage, inwieweit der Verfassungsschutz die AfD zu Recht als einen Verdachtsfall für Rechtsextremismus einschätzt. Lange Zeit mussten diese Grenzzonen nicht dauernd juristisch geklärt werden. Im Moment ist das aber der Fall. Und da müssen wir uns natürlich fragen, woher kommt es, dass über Deutschland hinaus? Und so lange Zeit war es ja in Deutschland gar nicht so virulent, wie es jetzt ist und wie es wahrscheinlich bei den nächsten Wahlen, den Kommunalwahlen und den Landtagswahlen sein wird. Wie kommt es, dass in den westlichen Demokratien solche latent nationalistisch faschistischen Bewegungen wieder Zulauf bekommen? Woher kommt das? Und ich denke die, dass die. Unser Grundgesetz hat sehr gut und klar statuiert, dass wir nicht ein Volk im völkischen Sinne sind. Darauf kommt ja eigentlich immer wieder Höcke und auch die AfD zurück, dass wir nicht sagen können „Gut ist, was dem deutschen Volke nützt“, wie neulich eine AfD Frau auf einem Parteitag sagte, sondern dass Deutscher oder das die Rechte, die Menschenrechte usw für alle Menschen universell gelten und dass wir das auch für alle Menschen gelten lassen müssen. Und deswegen finde ich es sehr, sehr wichtig, dass wir dieses Grundgesetz uns auch immer wieder vergegenwärtigen. Eine der neuralgischen Fragen ist dabei dann die Migrationspolitik. Ganz klar, denn da ist sozusagen die Grenze zwischen völkischem Gesellschaftsverständnis und universalistischem Gesellschaftsverständnis. Und wir haben in unserem Grundgesetz kein völkisches Verständnis, schon gar nicht ein biologistisches. Das ist aber im Gesetz und der Verfassung klar. Es ist aber nach meinem Eindruck in dem Bewusstsein oder auch in den Intuitionen vieler Menschen in Deutschland keineswegs klar, sondern da sind schon viele, die vor allen Dingen denken in den Widrigkeiten von Krisen und den vielen Ungleichheiten, die ja enorm in den letzten 30 Jahren zugenommen haben, müssen wir uns als ein völkisches Volk zusammenschließen und die anderen ausschließen. Die dürfen unsere Sozialsysteme nicht durchwandern und sonst was alles. Das ist eine ganz typische Bewegung, die immer wieder auftaucht, wenn Krisen des Kapitalismus stattfinden, vor allen Dingen zwischen Arm und Reich, zwischen Lebenschancen und nicht und dann diejenigen ausgeschlossen werden, die man nicht dabeihaben will in der Sicherheit des Staates.

00:10:56: Florian Harms: Das sind ja eigentlich Grundlagen dessen, sich. Jeder in diesem Staat, zumindest jeder, der Verantwortung trägt, bewusst sein sollte. Denn das rührt ja an die Grundfesten unseres Staates, also der Art und Weise, wie wir uns hier organisieren und wie wir hier zusammenleben. Und da hat man eben gewisse Spielräume. Man hat aber auch Leitplanken. Also wie weit kann ich gehen, um meine Meinung zu vertreten, um mein Leben zu leben, um mich zu verwirklichen? Und wo endet meine persönliche Freiheit? Und das muss man natürlich als demokratisches Gemeinwesen immer wieder neu aushandeln. Aber nicht in einem luftleeren Raum, sondern auf der Basis unserer Verfassung, nämlich des Grundgesetzes, die ja nicht Verfassung heißt, weil es ursprünglich eben in einer Zeit, als Deutschland noch geteilt gewesen ist, so gewesen ist, dass man gesagt hat, man gibt jetzt dem Staat, dem westlichen Staat keine Verfassung, sondern erst mal ein Grundgesetz, und dann kann vielleicht später eine Verfassung kommen. Aber das Grundgesetz hat sich ja zu einer Verfassung gewandelt. De facto ist es das. Und wenn jetzt jemand herkommt und sagt meine Meinung soll eben über allem stehen und soll auch über dieser Basis stehen, dann passt das nicht mehr zusammen. Und deshalb finde ich es sehr richtig, genau wie Sie es gerade auch geschildert haben, dass jetzt Richter werden, diesem Fall am Oberverwaltungsgericht in Nordrhein-Westfalen in Münster eben sehr klar machen. Eine Partei, die wirklich nachhaltig versucht, das System zu bekämpfen, die muss vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Und das im anderen Fall wie im Fall Höcke, wo jemand nationalsozialistische Parolen verwendet, sehr klar gemacht wird. Das geht nicht an eine Grenze, sondern das geht über die Grenze hinaus. Das können wir nicht tolerieren und deshalb muss der Staat da Zähne zeigen. Und ich glaube, der konkrete Fall für den Herrn Höcke ist vielleicht gar nicht so schlimm. Der ist jetzt vorbestraft, aber das wird wahrscheinlich bei seinen fanatischen Anhängern gar nichts groß auslösen. Aber die Strahlkraft so eines Urteils ist natürlich gewaltig, weil sie allen klar macht Bis hierhin und nicht weiter.

00:12:59: Gesine Schwan: Ja, da haben Sie völlig recht. Und als das Grundgesetz erarbeitet worden ist und dann auch beschlossen worden ist, da war all denen, die daran gearbeitet haben und die darüber zu beschließen haben, ja die gerade vergangene Vergangenheit, also der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg noch im Gedächtnis. Da gab sicher auch welche im Bundestag, die den eigentlich gar nicht so furchtbar fanden den Nationalsozialismus. Aber die große Mehrheit wollte das doch verhindern, dass so was noch mal passiert. Und die Grundlagen sind sehr gut durchdacht. Und was Sie jetzt beschrieben haben, ist, dass diese Grundlagen eigentlich immer wieder vergegenwärtigt werden müssen. Und das ist sehr lange in der Bundesrepublik nicht geschehen, auch gar nicht bei der deutschen Wiedervereinigung, weil da ist einfach Ostdeutschland was als das Arme und Bedürftige und Hilfsbedürftige und sonst was alles Deutschland angesehen worden ist, sozusagen unter die Fittiche von positiv formuliert des Grundgesetzes genommen worden, also angeschlossen worden. Und jetzt, bei dieser fundamentalen Systemherausforderung, die wir ganz eindeutig haben, ist es in der Tat notwendig, dass wir uns noch mal überlegen: Ja, was ist eigentlich unsere Grundlage? Ich bin ganz fest überzeugt, dass ein großer Prozentsatz, vielleicht mindestens 30 40 % der sogenannten Biodeutschen, also der Autochtonen, hat jetzt gar nichts mit Migration zu tun, dass die sich über diese Grundlagen gar nicht klar sind. Denn allein wenn viele sagen Ja, Demokratie heißt Volksherrschaft und das heißt das Volk muss herrschen, er ist das schon ein verständlicher aber Irrtum. Denn das Volk im Singular haben wir nicht. Wir haben eine pluralistische Gesellschaft, das Volk im Singular, das herrschen könnte, das ein Subjekt sein könnte, das über andere herrscht, haben wir nicht, hat keine moderne Gesellschaft. Und dies hat einer der großen Theoretiker der pluralistischen Demokratie, Ernst Fraenkel, sehr ausgeführt nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich kannte ihn noch als Professor am Otto-Suhr-Institut, der deutlich gemacht hat. Wir müssen als eine pluralistische Gesellschaft zusammenleben. Ist es legitim, unterschiedliche Interessen zu haben? Aber natürlich müssen wir zugleich einen Grundkonsens darüber haben, was uns allen wichtig ist über die einzelnen Konflikte und Gegensätze hinaus. Dieser Grundkonsens, so dachte sich das Fraenkel, würde durch die verschiedenen politischen Konflikte gleichsam aktualisiert werden und dann dadurch immer wieder entstehen. Er war Syndikus bei den Gewerkschaften in der Weimarer Republik, wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer immer erneut ihre Gemeinsamkeiten artikulieren können durch die Tarifverhandlungen oder andere Verhandlungen. Das war aber insofern leichter, als die beiden natürlich mit der Erhaltung ihrer Unternehmen ein gemeinsames Interesse und einen gemeinsamen Rahmen haben. Während in den politischen Kontroversen erst der Bundesrepublik West, aber auch der gesamten ja nichts in dem Sinne interessenmäßig zusammenhält. Es sei denn, es gibt dann eine systemsprengende Partei, wie das jetzt die AfD dem Willen nach ist. Und das heißt das, was eigentlich täglich hätte seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder erneuert werden müssen. Dieser Grundkonsens, der meines Erachtens nicht besteht in der deutschen Gesellschaft. Ich möchte das ganz klar sagen: Es gibt keinen Konsens darüber, wie viel Ungerechtigkeit geht und wie viel nicht mehr geht. Wenn man sagt, wenn, wenn Unternehmensleiter eben viele Millionen bekommen, auch wenn sie das Unternehmen schlecht führen und die Arbeitnehmer dann ihren Platz verlieren, dann heißt es immer noch Ja, das ist der Markt, der entscheidet es. Da gibt es kein Gerechtigkeitskriterium. Doch es muss ein Gerechtigkeitskriterium geben. Unter dem Aspekt, dass die gleiche Freiheit die gleiche Würde aller Menschen geboten ist und dass wir alle die Chance haben müssen, unser Leben frei zu bestimmen.

00:16:49: Lisa Fritsch: Aber wenn Sie das ansprechen mit dem Grundkonsens, der nicht vorhanden ist, meinen Sie denn auch jetzt, um das mal in eine Handlungsaktivität zu übersetzen, dass sich die Menschen in Deutschland mehr bewusst sein müssen über ihre politische Verantwortung, die jeder hat? Oder was genau meinen Sie konkret?

00:17:04: Gesine Schwan: Ja, bloß es hat keinen Sinn, das mit dem moralischen Zeigefinger einzufordern, sondern das ist gerade ein Lernprozess, der stattfindet. Und da bin ich insofern ganz froh, diese Potsdamer Villa Zusammenkunft, die praktisch deutlich gemacht hat, da ist eine Gruppe, die will deportieren, die will Menschen deportieren. Das hat endlich bei vielen deutlich gemacht, dass es da eine Grenze geben muss. Ich habe das neulich von einem Lehrer gehört, der aus Kroatien kommt. Der hat sich völlig als Deutscher gefühlt und plötzlich mit dieser Deportationsidee, mit dieser Remigration dachte Oh, ich bin hier ja gar nicht mehr zugehörig. Solche Tangierung ganz tief in der Existenz sind notwendig, um sich wieder darüber klar zu werden, was diese Demokratie auch existenziell für uns bedeutet. Und ich glaube, das war ein wichtiger Anstoß. Es haben dann auch ganz viele Hunderttausende gemerkt, hier wird's für uns alle brenzlig. Und das heißt, wir müssen uns neu überlegen, wo, wie wir leben wollen, wie wir zusammenleben wollen, wo die Grenzen sind. Insofern bin ich im Moment ganz optimistisch. Lange Zeit war ich schon sehr skeptisch, weil ich das Gefühl hatte, dass Wohlleben es so gut. Man muss sich da gar nicht groß Gedanken machen, wir leben einfach weiter so vor uns hin und können auch das einfach privat tun. Nein, man kann natürlich sein Privatleben haben, aber Bürger müssen auch immer politische Verantwortung tragen. Nur es hat keinen Sinn, denen das moralisch aufzudrücken, sondern das müssen sie selbst lernen.

00:18:35: Florian Harms: Und wissen Sie was, Frau Schwan? Ich glaube, das reicht nicht, dass wir das einfach nur in einer Debatte tun oder in den Medien tun oder in den Talkshows tun. Ich glaube, es sollte auch Institutionen dafür geben, und zwar so eine Art echten Demokratie Unterricht. Wir haben hier in diesem Podcast auch mal darüber gesprochen, dass es doch eigentlich sinnvoll wäre, wenn es für jede Bürgerin, jeden Bürger eine Art Pflicht, ja gäbe, dass er auch weiß, was der Bundespräsident jetzt wieder als Forderung erhoben hat. Da geht es zum Beispiel um die Frage eines Sozialdienstes oder der Wehrpflicht. Ich glaube, es wäre sinnvoll, dass jede Person und jeder auch abseits der Schule einmal so eine Art demokratische Bluttransfusion bekommt, also wirklich sich einmal intensiv beschäftigt mit dem System, in dem wir hier leben. Und da muss natürlich die Grunderkenntnis sein: Demokratie ist nichts, was einfach fertig ist. Demokratie ist etwas, was jeden Tag errungen wird durch Demokraten, in dem man eben mitmacht, in dem man wählt und sich wählen lässt, in dem man debattiert, sich einbringt, indem man genau wie sie es gerade beschrieben hat, eben auch erkennt, wie weit reicht Meinungsfreiheit und wo endet sie auch was wollen wir tolerieren und was nicht? Dass man dazu eine Position findet und dann eben auch wegkommt von dem, was hier auch mal ein Gast beschrieben hat bei uns im Podcast, nämlich Wolfgang Thierse, dass man immer nach da oben schielt und sagt, die da oben, die machen das nicht richtig, die schaffen das nicht und die müssen eigentlich alle weg. Pustekuchen. Wenn jeder sich einbringt, dann finden wir gemeinsam die besten Lösungen. Ich glaube, wir sollten versuchen, dafür eine feste Form zu entwickeln. Also wie so eine Art Demokratieunterricht, den jeder und jede einmal zu absolvieren hat.

00:20:15: Gesine Schwan: Ja, das finde ich sehr, sehr interessant, weil ich auch der Meinung bin, dass man eine das die Grundlage unserer pluralistischen Demokratie, dass wir nämlich Konflikt und Grundkonsens zusammenbringen müssen, verstehen müssen und dass man diesen Grundkonsens, der nicht sagt, im Einzelnen hat der oder der Recht, sondern die Prinzipien, nach denen wir uns einig sind, die und die, dass dieser Grundkonsens immer wieder neu erarbeitet werden. Nur bin ich ein Leben lang Lehrerin gewesen und glaube nicht, dass man so was theoretisch als Unterricht besonders effektiv beibringt, sondern ich. Aus diesem Grunde plädiere ich ganz intensiv dafür, das vor allen Dingen auf der kommunalen Ebene, aber auch auf den anderen Ebenen sogenannte Trialog, also auf der kommunalen Ebene kommunale Entwicklungsbeiräte eingerichtet werden, in denen die verschiedenen Interessengruppen zusammensitzen, aber auch die Parteien und auch die Verwaltung, also sowohl die, die gewählt sind und demokratisch legitimiert sind, als auch NGOs und die Wirtschaft zusammensitzen und sich gemeinsam überlegen Wohin wollen wir zum Beispiel mit unserer Kommune, mit unserer Kommune Cottbus oder Frankfurt oder wo wir das im Moment aufbauen? Oder in unserer Kommune Duisburg. Wohin wollen wir da mit einem Stadtteil, der ziemlich zerschlissen ist und ganz große Schwierigkeiten hat und dies jetzt mit einem ganz handfesten politischen und nachvollziehbaren und für jeden sichtbaren Ziel zu verbinden, nämlich die eigene Kommune voranzubringen. Das fördert, und das haben wir jetzt in sechs Kommunen schon mit großem Erfolg exerziert. Vier weitere sind dabei, also zum Beispiel Cottbus und Frankfurt. Oder das fördert, dass alle gemeinsam nachher nachdenken darüber, was wollen wir zum Beispiel mit irgendeiner Brache, die da im Stadtinnern völlig scheußlich und ästhetisch abstoßend liegt und die mal ein wunderbares Zentrum war. Was wollen wir alle gemeinsam da machen? Welche Funktion soll das haben? Sollte es ein Kaufhaus werden oder sollte es ein Spielplatz werden? Oder sollte es ein Haus der Kulturen werden oder was auch immer?

00:22:24: Lisa Fritsch: Aber wo liegt denn bei dem Vorschlag der Unterschied zu dem jetzt schon bestehenden kommunalen System? Ich meine, es gibt in den Kommunen schon so schon Möglichkeiten sich einzubringen.

00:22:29: Gesine Schwan: Ganz große Unterschiede. Es gibt einen ganz großen Unterschied. Die Kommune hat einen Stadtrat, der wird gewählt nach den Parteien. Da sind die verschiedenen Stakeholder, die verschiedenen Interessengruppen, der Seniorenverband, der Sportverband, die Bürgerinitiativen, Wald um, wenn ein Wald gefällt werden soll oder auch nicht, auch nicht die Arbeitgeber als Arbeitgeber, die Gewerkschaft als Gewerkschaften sind da nicht als Stakeholder, das heißt als Interessenvertreter dabei, sondern das sind die Parteien, da sind alle möglichen drunter. Aber diese Parteien sind im Stadtrat nicht in der Lage, die Frage des Grundkonsenses so klar und ausgiebig zu diskutieren, und zwar über das Vehikel der Begründung. Da bin ich wieder ganz deren. Das heißt, es geht dabei darum, das haben wir erfahren, wenn die sagen, wir möchten für unsere Stadt das und das, dann reicht das nicht. Sie müssen sagen warum. Und damit kommen sie automatisch auf die Ebene. Warum ist das gut für uns alle in Cottbus? Warum ist das? Sie können nicht einfach sagen Ja, das ist für meinen Stadtteil gut und die anderen interessieren mich nicht. Das geht dann in so einer Auseinandersetzung nicht. Und dabei wieder immer erneut diesen Grundkonsens konkret, politisch, kommunal. Aber ich würde sogar sagen, man kann das auch auf der Bundesebene machen. Für wichtige Gesetze zu erneuern und zu artikulieren, das ist in meiner Sicht wäre die Hilfe, um da wieder Fleisch sozusagen zu bekommen, an dieser Demokratie.

00:23:53: Florian Harms: Ist ein interessanter Gedanke, denn eigentlich gehen wir davon aus, dass wir eine Parteiendemokratie haben. Laut Grundgesetz wirken die Parteien an der politischen Willensbildung mit. De facto sind sie genau die Organe, die dann auch die entsprechenden Institutionen dominieren, die das entsprechende politische Personal stellen. Was dann die Entscheidungen trifft in Parlamenten, Ministerien, Kanzleramt und. Ich habe aber auch den Eindruck, dass es auch angesichts der vielfältigen Herausforderungen, mit denen wir jetzt konfrontiert sind, mehr demokratische Foren braucht, an denen Bürger mitwirken können. Denn man merkt ja auch viele im Land haben den Eindruck, meine Stimme wird sowieso nicht gehört. Ich habe sowieso keinen Einfluss, ich kann sowieso nichts bewirken. Und wie Sie es gerade beschreiben an diesem Beispiel, dass irgendein Brachland. Na ja, was ich davon denke, interessiert da sowieso niemanden. Pustekuchen. Noch mal Jeder soll mitmachen. Und deshalb fand ich auch dieses Instrument eines Bürgerrats so interessant und finde das so positiv, dass genau solche Foren jetzt auch dazu beitragen können, dass eben wirklich knifflige politische Probleme in einer ganz anderen Form noch diskutiert werden als nur durch die vorhandenen Gremien wie beispielsweise Parlamente, in denen dann die Parteien dominieren.

00:25:00: Lisa Fritsch: Aber ich muss noch mal kurz eine Zwischenfrage stellen: Ist es nicht eigentlich erwartbar von kommunalen Politikern, dass sie regelmäßigen Kontakt zu wichtigen Stakeholdern in der Region haben? Und dass es nicht die Aufgabe der Stakeholder, die wahrscheinlich andere wichtige Aufgaben haben, wie die Wirtschaft, voranzubringen oder für Arbeitsplätze zu sorgen. Dann noch politisch aktiv zu sein, ist ja auch Zeit, die draufgeht, die vielleicht diese Menschen gar nicht haben.

00:25:25: Gesine Schwan: Das finde ich eine hochinteressante Frage. Und ich glaube eben, dass Politik, also unser bisheriges System läuft. So die Politikerinnen und Politiker sollen sich über die verschiedenen Interessen und Lobbys und so was informieren und sollen in ihren Köpfen und Herzen und ihrer Fraktion dann irgendein Entscheidung treffen. Erstens werden diese Entscheidung ganz stark beeinflusst von der nächsten Wahl, also nicht immer in den Kommunen, da ist es noch besser. Aber bei allen anderen, da wird nicht mehr diskutiert, was ist jetzt das Beste für dieses Land? Sondern da ist und wird diskutiert Was, womit gewinne ich die Wahl? Zweitens ist es gerade wichtig, dass Wirtschaft, die das Unternehmen am Laufen hat, nicht mehr denken kann. Der Staat soll den Rahmen machen und darin mache ich dann meine Geschäfte und meine Gewinne. Nein. Die Wirtschaft muss auch verstehen, dass die Voraussetzung ihres Handels, nämlich einen sozialen Frieden, ein gutes Bildungssystem und alles das auch in ihrer Verantwortung liegt. Und nicht nur, dass sie ihren Privatteil machen können und der Rest muss von woanders her geliefert werden. Und wenn sie dann wenn es dann große Gegensätze gibt usw, dann stört sie das nicht. Das Problem ist, unsere Gesellschaft ist so sehr schon gespalten, nicht polarisiert. Also wir haben nicht zwei Lager, aber in sich gespalten und mit solchen Ungleichheiten durchfurcht und auch teils oft die Lebenswelten der anderen nicht mehr, sodass auch die sich an die Stelle der anderen zu setzen sehr schwerfällt, dass das wieder ausdrücklich geschehen muss. Und das wäre einfach ein Verfahren, was ich vorschlage, was nicht in Konkurrenz mit dem Abgeordnetenhaus oder sonst ein Haus gerät, sondern was ihn unterstützt, weil das Ergebnis dessen sind Empfehlungen, die gehen an die Stadtverordnetenversammlung und da hat man breit durchdiskutiert, welche verschiedenen Versionen es denn für dieses Zentrum von Cottbus geben könnte, Worum es da jetzt geht die sogenannte Stadt Promenade und wo welche Vor und Nachteile werden, da ist sozusagen das Terrain vorbereitet und dann kann sehr viel seriöser darüber diskutiert werden. Deswegen plädiere ich da ganz ausdrücklich dafür. Vielen wird auf diese Weise auch erst bewusst das war zum Beispiel ein Ergebnis von vielen dieser Verhandlungen. Es ist anstrengend, aber am Ende sagen die Teilnehmer Erstens Wir haben festgestellt, wir sind gar nicht so doll auseinander. Wir können zusammenkommen, weil wir in Ruhe darüber sprechen, und zwar begründet. Und zweitens werden.

00:27:53: Lisa Fritsch: Und wir werden gehört.

00:27:53: Gesine Schwan: Wir werden gehört und wir müssen uns auch untereinander hören. Also nicht nur von einer Obrigkeit gehört. Ja, das ist ein bisschen Obrigkeit. Ja, die wir hören uns untereinander an und wir müssen untereinander wieder zusammenfinden. Und wir haben wieder Vertrauen gewonnen zu uns zueinander, aber auch zu den Beamten weiß ich nicht. Wohnungsbau, Department und so in der Verwaltung und diese, diese sozusagen, diese Zwischenschicht, man nennt es auch intermediäre Gewalten in der Politikwissenschaft, das muss wieder gestärkt werden. Instituts auch institutionalisiert werden. Da bin ich also wirklich richtig missionarisch im Moment. Ich glaube zum Beispiel, das habe ich versucht, der Bundestagspräsidentin nahezubringen, sie soll doch so einen Art Trialog, also mit Lobbies. Der Bürgerrat will ja ausdrücklich keine Lobby sein, aber ich will die Lobbys den Stier bei den Hörnern packen. Die Lobbys sollen zusammenkommen und da soll man doch mal darüber nachdenken, welches die Voraussetzung eines gerechten Steuersystems sind, wenn trotzdem die Wirtschaft blühen soll. Denn dass wir im Moment nicht genug öffentliche Einkünfte haben, ist weiß jeder. Aber das Steuersystem ist wie eine heiße Kartoffel, da geht man nicht ran. Und dann jammert man darüber, dass keine Kitas gibt und dass die Schulen schlecht besetzt sind und dass die Bundeswehr jetzt was frau braucht. Das heißt ja die Sache ja, man muss dann ein Subventionen. Und Bürokratie. Nein, das ist ja einfach völlig oberflächlich. Wir brauchen mehr Unterstützung für öffentliche Güter. Und das geht nur über Steuern. Und da gibt es auch einen Teil der Gesellschaft, der da wirklich zu mehr beitragen kann.

00:29:26: Lisa Fritsch: Also ich denke, bundesweit wäre es auf jeden Fall eine strukturelle Mammutaufgabe, so was herzustellen. Kommunal ist es vielleicht noch ein bisschen einfacher, die Stakeholder auf kommunaler Ebene besser einzubinden, aber ich denke, irgendwer muss halt auch in der Verantwortung stehen, das zu tun. Und wenn Sie jetzt sagen, die Lobbys sollen dabei sein, ist natürlich auch immer die Frage, wie viele Lobbys von diesem Verband.

00:29:49: Gesine Schwan: Ja, das ist schwierig.

00:29:51: Lisa Fritsch: Wer kontrolliert denn am Ende den Anteil? Also vor allen Dingen wie auch für das Heizungsgesetz wäre, das glaube ich, auch gut gewesen bundesweit. Denn da war ja genau dieser gleiche Vorwurf Wir wurden nicht gehört. Oder auch bei den Bauernprotesten Anfang des Jahres Gleiches Problem, nicht genug Abstimmung, wo man eigentlich erwartet von der Bundesregierung, dass sie so was schafft?

00:30:11: Gesine Schwan: Ja, aber wissen Sie, bei den Baufirmen und auch bei den anderen die Bauernverbände sollen nicht immer nur was vom Staat gesagt. Sie sollen mit anderen Verbänden in dieser Gesellschaft in Kontroverse kommen, damit sie merken, sie sind nicht alleine. Ja, es muss innerhalb der Gesellschaft geschehen, finde ich. Um zu merken wir sind hier um einen begrenzten Kuchen. Wir müssen uns darüber verständigen und dann können wir Prioritäten sagen. Und das muss natürlich am Schluss bei den Gewählten entschieden werden. Aber alleine das sehe ich also zu deutlich. Ich bin ja nun lange Mitglied der SPD und das gilt nicht nur für die SPD. Die Politikerinnen und Politiker alleine sind damit schlicht überfordert.

00:30:50: Florian Harms: Den Eindruck habe ich auch. Den Eindruck habe ich auch auch. Übrigens wenn man hinterher in Hintergrundgesprächen mit den Politikern Politikern dann redet, dann sagen wir es ja auch durchaus mal offen. Ich finde die Vorschläge, die Sie gemacht haben, sehr konstruktiv und glaube, da bekäme man bestimmt ein großes Stück voran. Gleichwohl beharrt darauf Ich glaube, es braucht auch mehr politische Bildung. Wenn ich in manchen Regionen Deutschlands unterwegs bin, habe ich den Eindruck, da haben relativ viele Menschen, erschreckend viele erschreckend wenig Ahnung von den Grundlagen unseres Systems. Aber eine sehr hohe Meinung von sich selbst und eine sehr tief sitzende Wut auf alles, was nicht von ihnen selbst kommt. Und das lässt sich glaube ich nicht allein nur durch praktisch gelebte Demokratie im Sinne von Wir reden miteinander lösen, sondern das hat auch etwas damit zu tun, dass man doch auch eine Art demokratische Bürgerpflicht hat, sich erst mal zu informieren. In was für einem System lebe ich hier eigentlich? Wie funktioniert das? Wie funktioniert ein Parteienstaat? Was heißt das? Dass die Gewalten getrennt sind? Was dürfen Gerichte, was ist meine Rolle als mündiger Bürger? Und so weiter. Und da wünsche ich mir einfach, dass mehr Leute bereit sind, auch einfach mal diese Grundlagen sich drauf zu schaffen.

00:32:02: Gesine Schwan: Ja, aber wissen Sie, ich bin auch sonst in der Didaktik immer für exemplarisches Lernen. Das ist ein Lernprozess, wovon ich jetzt spreche. Das kann man nicht trennen. Denn die Auseinandersetzung darum, was jetzt für die Gesundheit notwendig ist und warum die Gesundheit eine große Rolle spielt oder vielleicht, dass auf keinen Fall die Kreuzkröten irgendwo in einer der Städte als Zeichen der Biodiversität untergehen müssen. Das ist ein Lernprozess. Ich werde auch jetzt oft eingeladen von Institutionen, die sogenannte kommunale Bildung betreiben, weil ich sage, diese Perspektivenvielfalt miteinander zu konfrontieren. Das ist ein intensiver Lernprozess, wo man plötzlich dann auch merkt, also eine der sehr intensiven Bund und Naturschützer Gruppen, die wollten immer ein Veto durchsetzen, wollen sagen Ihr könnt alles untereinander machen, aber wir machen das Veto. Wenn die Natur berührt ist und sagt, dann kommen wir nicht zusammen. Das ist ein Lernprozess. Und er muss sehr gut moderiert werden, weil man sich ausreden lassen muss gegenseitig. Man muss auch sich bemühen, zu verständigen. Aber wenn man das macht, dann entsteht eine Atmosphäre. Das haben wir jedes Mal gemerkt, dass wir nicht einfach an dem anderen polemisch vorbeireden kann. Dann ist man praktisch diskreditiert in der Community. Ja, man muss schon eine gewisse Haltung bewahren und man muss eben dieses begründen und auf die anderen zugehen und zuhören und auch wertschätzen. Das muss man üben, aber es macht dann auch Spaß. Das ist unsere Erfahrung. Es macht den Leuten Spaß. Sie finden, dass es eigentlich ganz günstig ist, sich zwar zu mühen, aber dann am Ende wirklich viel Gemeinsames zu finden und nicht immer jeder gegen jeden diese Erfahrung zu machen. Die geht nämlich doch vielen Menschen auch auf den Keks. Und das da führt nicht kitschig zusammen. Nicht über Gefühligkeit, sondern über Argumente und auch über Anstrengung und auch über Geduld, aber auch über Lachen und über Humor. Also ich muss wirklich sagen, ich habe das zum Teil auch moderiert, aber jetzt machen das professionelle Moderatoren, die ich noch viel besser finde, weil ich bin einfach eine Hochschullehrerin. Ich habe sicher ganz gut Seminare geleitet, aber die können von 9 bis 17 Uhr das so abwechslungsreich machen. Das ist richtig. Tolles Ja, das sind ja die Studenten, die da mit den Ja zu tun haben. Also das ist. Ich schwärme dafür, weil ich die Erfahrung gemacht habe und wir hoffen, dass wir immer mehr damit anstecken können. Das ist ein Prozess, wo man lernt. Wir leben nicht allein in dieser Welt, wir müssen uns auf andere einlassen. Und ich kam jetzt noch mal darauf, wenn wenn so eine Gruppe dann plötzlich ausschert und sagt Jetzt will ich aber doch mit dem Gerichtsprozess dagegen angehen, ich klink mich jetzt aus. Das ist in unserem System natürlich möglich, aber da könnte ich mir vorstellen, wenn dann eine so ausgiebige Diskussion einer Problematik vorangegangen ist, dass sie dann gerichtlich nicht sehr weit kommen. Also wenn irgendwas unter den Tisch gekehrt worden wäre, vielleicht, aber nicht so und insofern glaube ich wirklich, man muss es, man muss dies alles machen, was Sie fordern. Das gefällt mir sehr gut, dass Sie sagen, man muss es institutionalisieren. Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Man das darf nicht einfach nur oder es hat nicht gereicht, was Fraenkel gedacht hat, dass man das in den politischen Prozessen macht.

00:35:14: Lisa Fritsch: Ja, ich will zum Ende der Diskussion noch mal auf die Verfassung zurückkommen, auf unser Grundgesetz. Wir hatten es jetzt schon angesprochen, und Sie haben es auch gerade noch mal erwähnt mit dem Gerichtsprozess auf die extremen Kräfte, weil ich finde diese Frage, wie sicher ist unser Grundgesetz schon interessant? Also bei Demonstrationen der islamistischen Szene wurden ja in den vergangenen Wochen die Errichtung eines Kalifats, eines islamischen Gottesstaat gefordert. Im Gegensatz dazu haben wir eben auch die Kräfte, die wir schon von der AfD erklärt haben, also rechtsextremistische Strömungen. Wie sehr ist denn unser Grundgesetz von extremen Kräften bedroht? Wäre es denn theoretisch möglich, dass die Verfassung ausgehebelt wird?

00:35:56: Gesine Schwan: Also das ist immer möglich, wenn eine Mehrheit der Gesellschaft sie einfach über Bord wirft. Sie können eine Verfassung gegen eine Mehrheit der Gesellschaft, wenn dann noch dazu klar strategisch Machtpositionen in Militär, Polizei, Gerichtswesen usw besetzt werden, können Sie einen Staat, eine Demokratie aushebeln. Das ist wichtig, dass man das auch ganz machttechnisch sieht. Also ich glaube auch zum Beispiel jetzt im Bundestag noch zu beschließen, wie das mit der Bestückung von Verfassungsgerichten ist. Also es gibt ja da eine Arbeitsgruppe in Thüringen von jungen Leuten, die festgestellt hat, dass im nächsten Jahr und dann noch mal in drei Jahren oder zwei Jahren das gesamte Verfassungsgericht in Thüringen personell ausgetauscht werden muss, neu gewählt werden muss. Wenn die AfD eine blockierende Minderheit dagegen wäre, geschweige denn, dass sie eine Mehrheit würde, könnte sie dafür sorgen, dass dieses Verfassungsgericht personell austrocknet. Dann ist es nicht mehr in Funktion. Das sind ganz handfeste rechtliche Sachen, auf die man gesetzlich auch eingehen muss. Aber darüber hinaus ist es eben wichtig, dass die Gesellschaft tief unten lernt. Dies ist eine Lebensform und eine Regierungsform, die wir wollen und die geschützt werden muss. Und es gibt andere, die wollen wir nicht. Und dieser Vergegenwärtigungsprozess findet jetzt, glaube ich, erst viel mehr statt, weil man da sehr viel offensiver sieht, da drohen Wahlen, dass die wirklich die Macht ergreifen und dass sie das völlig gewissenlos, also nach ihrem Gewissen vielleicht, aber einfach ruchlos machen. Und dass man da wirklich aufpassen muss. Diese dramatische Situation hatten wir ja noch nicht in Deutschland, Aber jetzt haben wir sie.

00:37:40: Florian Harms: Jetzt haben wir sie. Und zugleich, Lisa, kann man ja sagen, dass unser Grundgesetz, also jetzt nicht die Landesverfassung, was ja gerade am Beispiel von Thüringen beschrieben haben, Frau Schwan, sondern wirklich unser Grundgesetz sehr stabil ist, weil es genau so angelegt worden ist. Es gibt die Ewigkeitsgarantie, die betrifft den Artikel eins und den Artikel 20, wo eben niedergelegt ist. Wir haben darüber gesprochen einmal die Würde des Menschen ist unantastbar, und was davon abgeleitet ist und wo die Grundstruktur des Staates beschrieben wird, eben ein demokratischer, sozialer Bundesstaat, wo die Bundesländer zusammen den Bund bilden. Und dann ist die Regel, dass das Grundgesetz nur mit Zweidrittelmehrheit geändert werden kann in beiden Kammern des Parlaments, Bundestag und Bundesrat. Und dafür braucht es halt auch erst mal relativ viele Leute, um das zu machen. Das heißt nicht, dass das Grundgesetz unangreifbar wäre oder dass es nicht auch angreifbar wäre, dass es tatsächlich mal gefährdet sein könnte, zum Beispiel in einzelnen Aspekten. Aber es ist doch vergleichsweise stabil. Und auch wenn man das mit anderen Verfassungen der deutschen Geschichte vergleicht, zum Beispiel der in Weimar, war die natürlich viel, viel instabiler. Und der Prozess, den haben wir als Erfahrung gesammelt. Und da haben eben, du hast sie vorhin erwähnt, die Väter und Mütter des Grundgesetzes gesagt, Wir wollen das möglichst stabil machen, und darauf können wir stolz sein. Diese Grundlage in unserem Staat ist stabil.

00:38:56: Lisa Fritsch: Also sicher, aber nicht zu 100 %.

00:38:58: Gesine Schwan: Nur noch Ja. Ich stimme Ihnen zu, aber es gibt die eine Schneise, dass man nicht durch Mehrheit, sondern durch Obstruktion Institutionen kaputt macht. Man Dazu brauchen Sie noch keine Mehrheit. Das können Sie gegebenenfalls mit einer. Erheblichen Minderheitsschaffen dieses Obstruktionsverfahren. Und das bei der personellen Bestückung. Denn es hängt immer sehr das Bundesverfassungsgericht davon ab, dass gute Richter da waren, unterschiedliche auch nicht alle gleich qualifiziert. Aber es brauchte eine sehr qualifizierte Mehrheit, um sie da reinzubringen. Also sie konnten nicht so aus extra Nischen kommen und sie konnten auch nicht durch Obstruktion unterminiert werden. Ihre Bestellung und ihre Wahl und das ist alles sehr wichtig, glaube ich. Da sind jetzt noch so ein paar Lücken, auf die man achten muss. Ich bin keine Juristin. Und dann müssen wir vor allen Dingen darauf achten, dass immer mehr Menschen merken, die Meckerei ist ganz schön, aber wir müssen es konstruktiv machen, damit wir in unserer Gesellschaft weiter freiheitlich leben können.

00:39:56: Lisa Fritsch: Und wir müssen uns auch alle einbringen, denn nur so kann eine Demokratie funktionieren. Ja, damit würde ich zum Ende dieser spannenden Diskussion kommen und bedanke mich ganz herzlich bei Ihnen, Frau Schwan, für Ihre Zeit und auch an Dich, Florian, für Deine Einordnungen. Wir feiern am kommenden Donnerstag, dem 23. Mai 75 Jahre Grundgesetz. Wir hoffen, liebe Hörerinnen und Hörer, wir konnten Ihnen mit dieser Diskussion ein paar Impulse zu diesem wichtigen Jubiläum geben. Wenn Sie noch eine Anmerkung oder Frage haben, schreiben Sie uns gerne an Podcasts@t-online.de. Und wenn Sie es noch nicht getan haben, abonnieren Sie den Tagesanbruch Podcast auf Spotify oder Apple Podcasts, um keine neue Folge unserer Wochenenddiskussion zu verpassen. Und damit bedanke ich mich bei Ihnen fürs Zuhören und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Tschüss.

00:40:40: Gesine Schwan: Tschüss! Alles Gute für alle.

00:40:43: Florian Harms: Wünsche ich auch Tschüss und bleiben Sie uns gewogen.

Über diesen Podcast

Der Nachrichtenpodcast von t-online zum Start in den Tag.

Im „Tagesanbruch“ ordnet t-online-Chefredakteur Florian Harms im Wechsel mit seinen Kolleginnen und Kollegen die wichtigsten Themen des Tages ein, analysiert und kommentiert – am Wochenende in einer tiefgründigeren Diskussion zu einem aktuellen Thema der Woche. Neue Folgen gibt es montags bis samstags ab 6 Uhr morgens.

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von und mit Florian Harms

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